„Triff mich an der Bank im Park!“. Ich blicke auf, fast ruckartig zuckt mein Kopf nach oben, so überrascht bin ich. Ich habe sie gar nicht ins Zimmer kommen hören. Sie steht etwa einen Meter von mir entfernt und schaut mich an. „Welche Bank?“, höre ich mich fragen. Dass sie so plötzlich vor mir steht, macht meinen Kopf auf einmal ganz leicht und luftdurchlässig. „Na, die Bank, auf der wir so lange gesessen und geredet haben. Die an der vorderen Ecke vom See“. Sie bewegt den Kopf leicht von links nach rechts, als wolle sie eine Richtung anzeigen. Dabei fällt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, die sie sofort hinters Ohr zurückschiebt. Ihr Oberkörper ist aufrecht, eigentlich kerzengrade, aber unmerklich ein wenig von mir weggeneigt. Millimeter nach rückwärts, es sind nur Millimeter. Aber ich spüre sie. Ich blicke auf ihre Füße. An den Füßen, habe ich einmal gelesen, könne man die Einstellung seines Gegenübers zu sich erkennen. Zeigen die Fußspitzen auf einen selbst, dann sei der Gegenüber an Nähe interessiert. Zeigen sie seitlich an einem vorbei, dann wolle er eigentlich lieber weg. Von Lilis linkem Fuß verläuft eine imaginäre Linie schnurgerade auf mich zu. Ihr rechter Fuß zeigt zur Wand neben mir. So viel dazu, denke ich. Wie lange haben wir uns nicht gesprochen? Wochen? Monate? Ich blicke sie an. Sie hebt ihre Arme, fährt energisch durch ihre Haare, hebt sie aus dem Nacken, schiebt sie erst über ihre linke Schulter und glättet sie dann mit ihren Händen. Bürstengleiche Striche, erst mit der linken, dann mit der rechten, immer abwechselnd. Eine ihrer Verlegenheitsgesten, ich kenne sie noch. Wenn ich sage, dass ich nicht weiß, wie lange wir uns nicht gesprochen haben, ist das komplett gelogen. Ich weiß es ganz genau. Drei Monate, fünf Tage und 17 Stunden ist es her, dass Lili aus meinem Leben verschwunden ist, und ich bin mir jeder einzelnen Sekunde schmerzlich bewusst. Ich blicke sie an, immer noch nicht in der Lage, die Luftwirbel in meinem Kopf soweit zu beruhigen, dass ich einen klaren Gedanken fassen kann. Als sie vorhin ihre Haare zur Seite geschoben hat, habe ich für einen Moment ihr Parfum riechen können. Ich muss kurz ich die Augen schließen, so schmerzhaft plötzlich und unwillkürlich löst ihr Geruch eine Kaskade von Erinnerungen in mir aus. Das würde er wohl auch noch in fünfzig Jahren. Gerüche, auch das habe ich einmal gelesen, sind eine der stärksten und am wenigsten kontrollierbaren Zugänge zum Unterbewusstsein. Lilis Parfum ist einmalig, zumindest an ihr. „Zuckerwatte“, hat sie immer gesagt, „es riecht nach Zuckerwatte“. Ich lehne mich nach vorne, will sie berühren, will ihr sagen, wie sehr sie mir fehlt. Stattdessen sage ich „Ah, ach so, ja.“. In diesem Moment kommt Arno ins Zimmer. Er wirft sein Notizbuch auf den Tisch und murmelt etwas, was keiner von uns versteht. Als fühle sie sich ertappt, dreht sich Lili sofort Richtung Tür und mir den Rücken zu. Zwei Schritte, sie wendet noch einmal den Kopf. „O.k.?“, fragt sie. „O.k.“, sagt ich. Dann ist der Raum wieder leer. Lili-leer.
Ich merke, dass mein Herz rasend schnell schlägt. Wie heißt es in schlechten Liebesromanen immer? Wie ein Kolibri, richtig. Das Herz flattert wie ein Kolibri. Ich hasse solche abgenutzten sprachlichen Bilder. Arno fragt mich etwas, ich antworte und wende mich wieder der Präsentation zu, an der gearbeitetet habe, bevor Lili ins Zimmer und zurück in meine Realität gekommen ist. Wann soll ich sie überhaupt treffen? Die Frage schießt mir durch den Kopf. Das Wann haben wir gar nicht geklärt. Ich tippe die Frage in mein Handy und drücke auf „Senden“. Lili ist immer noch in meinen Kontakten gespeichert. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu löschen, obwohl sie mich darum gebeten hatte. Es hätte sich einfach zu endgültig angefühlt. Sekunden später erscheint „19 Uhr“ auf meinem Display. Klare Ansage. Hat Lili immer so gemacht. Ich wünschte, ich hätte ihre Klarheit bessesen, als ich bemerkte, dass mein Leben schnurgerade auf ein Desaster zusteuerte. Ein klarer Mensch hätte das Steuer rechtzeitig rumgerissen, den Kurs geändert und die Klippen umschifft, die für jeden außer für mich weit sichtbar aus dem Wasser geragt hatten. Ich muss blind gewesen sein, dass ich sie nicht gesehen habe. Oder an Realitätsverlust grenzend optimistisch. Wie passend, denke ich, ein Optimist ist ein Boot. Ich schüttele resiginiert den Kopf. Meine schönen Seemannsmetaphern helfen mir jetzt, wo alles zu Bruch gegangen ist, auch nicht weiter.
Der Nachmittag zieht sich endlos. Gegen 18 Uhr halte ich es nicht länger aus, packe meine Sachen und radele zum Rhein. Ich habe wieder angefangen zu rauchen. Immer, wenn ich zur Ruhe kommen will, gönne ich mir eine Zigarette. Dabei ist es gar nicht unbedingt das Nikotin, die Droge selbst, die mich beruhigt. Viel mehr ist es der Akt des Rauchens, das Ritual. Zigarette aus dem Päckchen ziehen, mit der linken Hand den trockenen Filter zwischen den Lippen stecken, mit der rechten das Feuerzeug betätigen, das Knistern beim Anzünden, der erste Zug – den Rauch einatmen und laaaaaagsam wieder ausatmen – die Hand sinken lassen. Ich starre aufs Wasser. Ich muss auf einmal an ein Lied von Thees Uhlmann denken, in dem er davon singt, dass man auch ihn an einer Bank im Park treffen solle. Obwohl das Lied eigentlich komplett auf Deutsch ist, ist das Ende des Refrains unerklärlicherweise auf Englisch: „Even though we are just dancers in the dark“, singt Thees. Genau so habe ich mich zuletzt ohne Lili gefühlt. Wie jemand, der im Dunkeln tanzt. Unsicher, blind, unsichtbar.
Obwohl ich gefühlt alle fünf Minuten auf meine Uhr geschaut habe, muss ich schließlich doch wie wild in die Pedalen treten, um pünktlich um sieben im Park anzukommen. Ich sehe die Bank schon von Weitem, sie ist leer. Lili ist noch nicht da. Während ich auf unseren Treffpunkt zugehe, schieben sich vor meinem inneren Auge Erinnerungsscherben wie in einem Kaleidoskop zu bunten Bildern zusammen. Lili und ich, lachend, jede mit einem riesigen Eis in der Hand, Lili, wie sie mich in den Arm nimmt, wir beide lauthals singend auf einer menschenleeren Straße, Lili und ich in identischen Kleidern bei unserer Abschlussfeier an der Uni, ein Strand am Fluss, Lili und Jonas, Weingläser und Sektgläser, Lilis Gesicht, als ich ihr Worte sage, von denen ich erst in dem Moment, als ich sie ausspreche, erkenne, das es die schlimmsten und falschesten Worte sind, die ich jemals gesagt habe, die Bank, auf die ich gerade zulaufe, Lilis Augen, die erst ganz groß werden und sich dann mit unendlich vielen Tränen füllen, ich allein und innerlich taub, nachdem sie aufgestanden und gegangen ist, Jonas, Jonas, Jonas, und dann nicht mal mehr Jonas.
Erst als ich direkt vor der Bank stehe, sehe ich den kleinen, zusammengefalteten Zettel. Mein Name steht in Lilis Schrift darauf. Adeline – mit einem Punkt auf dem i, wo sonst immer ein Herzchen war. Unsere Namen wie Vierzehnjährige mit Herzen zu verzieren war der vielen, herrlichen kleinen Albernheiten unserer Freundschaft. Obwohl mir völlig klar ist, was auf dem Zettel geschrieben stehen wird, hofft ein winziger Teil von mir, etwas anderes zu lesen. „Es tut mir leid, aber ich kann es doch nicht. Bitte vergiss, dass ich dieses Treffen vorgeschlagen habe.“
Zu Hause falte ich den Zettel ganz klein. Ecke auf Ecke auf Ecke, bis er so winzig ist, dass man ihn kaum noch sieht. Ich stecke ihn in die Seitentasche von einem der beiden großen Koffer, die fertig gepackt in meinem fast leeren Schlafzimmer stehen. Die meisten meiner Möbel sind bereits verkauft oder eingelagert, den Rest wird meine Nachmieterin übernehmen. Ich nehme das Flugticket von meiner Kommode und blicke lange darauf. United Airlines nach San Diego, one way. Das war der Plan: Ein neues Leben, nachdem ich mein altes so gedankenlos zertrümmert hatte. Lili weiß nichts davon. Vielleicht, denke ich, vielleicht sage ich es ihr morgen. Mit einem Zettel, den ich auf unsere Bank im Park klebe. Sie wird ihn finden und mich verstehen. Denn Lili ist immer noch Lili. Und ich bin immer noch ich.
Sehr schöne Kurzgeschichte!