Auf der Suche nach meinen Wurzeln

Ich bin hocherfreut, dass ich es nach 44 Jahren immer noch fertigbringe, mich selbst zu überraschen. Gerade nämlich habe ich, der Kaffee-Snob vom Allerfeinsten (O-Ton meines Freundes Hakan), mir einen schnöden Instantkaffee aufgegossen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ist es in diesem Fall noch nicht einmal echter Kaffee, sondern Zichorien-Kaffee aus dem Bioladen. Zichorien, das musste ich erst einmal googlen, sind Wildpflanzen, deren Wurzeln man trocknet, röstet und mahlt, und die aufgrund ihrer Bitterstoffe ähnlich wie Kaffee schmecken. Sollen. Ich habe berechtigte Skepsis. Unterm Strich bin ich für allerhand Öko-Klimbim zu haben, aber bei Kaffee ziehe ich die Grenze. In London zwanzig Minuten vor Monmouth Coffee im Regen anstehen, um 250 g feinste Columbia-Bohnen mit nach Hause zu nehmen? Das bin ich – nicht die Person, die hier gerade ein koffeinfreies Heißgetränk aufgießt, das ich allein schon aus Prinzip nicht weiter Kaffee nennen möchte. „Feinste Crema“ steht auf der Packung und überraschenderweise bildet sich auf der Oberfläche tatsächlich eine zarte, butterfarbene Schicht. Im Gegensatz zu einer echten Crema hat diese hier allerdings eine Halbwertszeit von etwa 20 Sekunden, danach blicke ich in eine traurige, schwarz-braune Brühe. Wie passend, denke ich.

Mein Leben könnte gerade langweiliger nicht sein. Ich stehe auf, mache mir Frühstück, turne entweder halbherzig auf meiner Yogamatte rum oder meditiere, esse zu Mittag, gehe spazieren, lese ein Buch, esse zu Abend, gehe schlafen. Sehr viel mehr passiert aktuell nicht bei mir. Sehr viel mehr bekomme ich auch nicht hin. Ich bin krankgeschrieben mit einem Burnout und warte darauf, dass ich wieder gesund werde und mein Leben wieder aufregend wird. Immerhin gibt es etwas, worauf ich warten kann. Am Wochenende habe ich mich aufgerafft und war im Theater, in „Arbeit und Struktur“, einem für die Bühne adaptieren Buch von Wolfgang Herrndorf. Darin beschreibt er, wie er nach der Diagnose seines Gehirntumors beschließt, der Welt noch etwas zu hinterlassen, bevor er viel zu früh gehen muss. Er zwingt sich, trotz der ausweglosen Lage, jeden Tag etliche Seiten zu schreiben, um wenigstens noch ein einziges Buch fertig zu bekommen. Am Ende sind es drei. Dazwischen: Operationen, Schmerzen, Hoffnung und ausrechnen, wieviel Zeit ihm noch bleibt. So gesehen hat er auch auf etwas gewartet, nur eben auf sein Ende und nicht wie ich auf einen Neuanfang. Ich bewundere seine Unerschütterlichkeit. Ob es eine wahnsinnig brillante Idee war, sich in meinem Gemütszustand ein Stück übers Sterben anzuschauen, sei dahingestellt. Aber manchmal sind es ja gerade derartige Erzählungen, die eine „Carpe Diem“-Mentalität in einem freisetzen. Wahrscheinlich sagt man heute eher „YOLO“ und sehr wahrscheinlich sagt auch das keiner mehr. Jedes Mal, wenn ich erfahre, welches Wort zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde, versuche ich mir vorzustellen, wie ich es selbst in einem Satz verwende. In der Regel gelingt mir das nicht. Nach jahrelangem Üben geht mir mittlerweile immerhin ein geschlechtsloses „Alter!“ geschmeidig von den Lippen. Herrndorf wiederum hat mit Mitte 40 einen Jugendroman geschrieben und aus meiner Sicht ist ihm das ziemlich gut gelungen. Seine schnörkellose, direkte Sprache gefällt mir; sie ist nicht gewollt und genau deshalb trifft sie. Er hat einfach über das geschrieben, was ihn als Jugendlicher bewegt hat, in Worten, wie er sie damals gefühlt hat, aber erst jetzt, Jahre später, ausdrücken konnte. Überhaupt ist das mit dem Wahrnehmen und Ausdrücken von Gefühlen so eine Sache. „I am willing to hear myself” hat meine Yogalehrerin gestern in der Stunde zitiert. Ich bin bereit, mich zu hören. Es geht darum, erst einmal im Inneren zu lauschen, was da eigentlich los ist, bevor ich mich kommunikativ ins Außen begebe. Die meisten Menschen reden und machen ganz viel, ohne zu wissen, wie ihr Innenleben aussieht. Oft kommt dann das Falsche raus und sie wundern sich, dass ihr Umfeld nicht so reagiert, wie sie es gerne hätten, oder dass sie diffus unglücklich sind, weil ihre wahren Bedürfnisse nie erfüllt werden. Damit mir das nicht passiert, liege ich aufmerksam auf meiner Yogamatte und spitze meine inneren Öhrchen. Ich höre: nichts. Oder doch: Ich höre meinen unruhigen Herzschlag und denke mir: „Alter, du musst das endlich mit dem Kaffee lassen. So kommst du nie runter!“.

Was erklärt, warum ich heute Morgen mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung in meine Zichorien-Brühe starre. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und probiere das mir unwürdig erscheinendem Getränk. Es schmeckt erstaunlich gut. Nicht wie Kaffee, aber auf eine gewisse Art, die ich mir nicht erklären kann, sogar noch besser. Und ich denke: Wenn das möglich ist, dann habe ich die berechtigte Hoffnung, dass noch ganz andere Dinge möglich sind. Vielleicht geht’s bergauf.

Where there is cake there is hope.
And there is always cake.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Klaudi sagt:

    Welcome back!!!
    Freu mich für dich!!!

  2. Christa Altmeier-Kuß sagt:

    Ein mutiger Schritt für eine passionierte Kaffeeliebhaberin, Zichorienkaffee zu probieren! Passt aber gut, dies während einer gesundheitlichen „Zwangspause“ zu probieren! LG von Chrissie

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