Vor ziemlich genau 365 Tagen habe ich mir mein erstes Tattoo stechen lassen. In LA, von einem durchgeknallten Typen aus Hamburg mit dem Künstlernamen Sagent Staygold. Der Tattoo-Laden war irgendwo in Silverlake und kurz zuvor von der LA Times zu einem der zehn besten der Stadt gewählt worden. Es war Samstagmorgen und schon unfassbar heiß und vor kribbeliger Aufregung hatte ich meinen Frühstücks-Muffin auf dem hippen Farmer’s Market um die Ecke (der, wo Leo di Caprio und Toni Garrn das erste Mal Hand in Hand fotografiert wurden) nur mit leichtem Widerwillen essen können. Als Sagent dann aber die Nadel ansetzte, war ich auf einmal ganz ruhig. Irgendwie kam in dem Moment eine Art Fatalismus über mich – ich wusste, dass es jetzt zu spät war, um sich umzuentscheiden. Das Ding war durch, es gab kein Zurück mehr. Mit dem brennendem Schmerz von kratzenden Katzenkrallen schleuste die Nadel in tausend kleinen Stichen so lange die schwarze Tinte unter meine Haut, bis in geschwungener Schrift das Wort „here“ auf meinem linken äußeren Handgelenk stand. Nach nicht einmal zehn Minuten war alles vorbei und ich stand wieder auf dem Sunset Boulevard in der blendend weißen Sonne.
Wenn die Geschichte jetzt wie ein cooler, spontaner „Carpe Diem/Live for the Moment“-Einfall klingt – war sie nicht. Ich hatte mir die Entscheidung mehr als reiflich überlegt. Fast ein ganzes Jahr lang hatte ich mir jeden Morgen mit wasserfestem Eyeliner das Wort „free“ auf mein Handgelenk gemalt. Ich wollte einfach sichergehen, dass sich Tinte auf meiner Haut auch nachhaltig gut anfühlen würde. Denn ich kenne mich: So schnell und intensiv ich mich für Sachen begeistern kann, so groß ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach kurzer Zeit schon nicht mehr mit mit voller Überzeugung dabei bin. Das mag bei Mode, Jobs oder sogar Liebschaften langfristig betrachtet nicht allzu tragisch sein – bei einer lebenslangen Zeichnung meines Körpers wollte ich dann aber doch auf Nummer Sicher gehen. Um mich also vor meiner eigenen Flatterhaftigkeit zu beschützen, testete ich meine Beständigkeit so lange, bis ich mir sicher war, dass ich mich mit dem schwarzen Schriftzug an meinem Handgelenk mehr wie ich selbst fühlen würde, als ohne.
Und ebenso sicher war ich irgendwann auch, dass ich sich „here“ richtiger anfühlen würde als „free“. Ja, ich bin jemand, der Freiheit über alles liebt: die Freiheit sich zu entscheiden, die Freiheit zu gehen oder die Freiheit zu bleiben. Aber das weiß ich über mich, das Wort ist tief in mein Herz eingegraben, das brauche ich mir nicht ständig zu sagen. Was ich aber nicht gut kann, ist bei mir zu bleiben, im Moment zu verweilen, mit Kopf und Geist nicht ins Gestern oder Morgen abzudriften. Ich bin irgendwo, wo es wunderschön ist – und anstatt den Moment zu genießen, bin traurig, dass er in absehbarer Zeit schon wieder vorbei sein wird. Ich komme an einen Ort und überlege schon, wo ich als nächstes sein werde. Anstatt sich mit dem zu beschäftigen, was direkt vor mir liegt, bin ich mir selbst immer tausend Schritte voraus. Da helfen auch kein Yoga und keine Meditation. Oder vielleicht doch – ich komme nur einfach nicht dazu, weil ich immer schon die nächste Aktivität, das nächste Abenteuer im Kopf habe. Das kleine Wort an meinem Handgelenk ermahnt mich, durchzuatmen und zu verweilen. Wenn ich wieder das Gefühl habe mir selbst davonzurennen, streiche ich über die immer noch leicht erhabenen Buchstaben auf meiner Haut und weiß, dass es ok und richtig ist, jetzt gerade genau hier zu sein.
Ich mag an „here“ auch die versteckte, selbst-referentielle Bedeutung; dass das Wort sich selbst und den Moment seiner Entstehung bezeichnet. Ich werde mich immer das „hier“ des dunklen Tattoo-Studios auf dem Sunset Boulevard erinnern, an die flirrende Hitze der kalifornischen Sonne und an das Gefühl der Freiheit, mich genau dafür entschieden zu haben.
Nachtrag: Diesen Text habe ich nach einem Erlebnis auf meiner kürzlich stattgefundenen Vietnamreise geschrieben: Als ich gegen halb 5 morgens in einem Jeep saß, der mich zum Sonnenaufgang durch die Dünenlandschaft von Mui Né fuhr, verspürte ich plötzlich den unbändigen Wunsch, nicht dort, sondern in Namibia zu sein. Ich sah nicht länger die blassgelben Dünen, die vor mir lagen – ich sehnte die Namib herbei. Womit wieder eindrucksvoll bewiesen wäre, dass ich ganz dringend einen „hier“-Anker brauche… Alles richtig gemacht, dachte ich mir in dem Moment!
Und ich war immer dabei :)
Das ist wahr. Du hast mir mental und in realitas Händchen gehalten. Das werde ich ebenfalls nie vergessen :-)