Meine Oberschenkel brennen, meine Arme zittern vor Anstrengung und sind so bleischwer, dass ich nicht weiß, wie ich sie wieder hochheben soll. Sauerstoff, ich brauche mehr Sauerstoff! Ich widerstehe dem Impuls, laut japsend nach Luft zu schnappen, denn ich bin angehalten, ruhig und gleichmäßig durch die Nase zu atmen. Ruhig und gleichmäßig fühlt sich hier aber gerade nichts mehr an. Mein Körper hat Siedetemperatur erreicht, ein Schweißtropfen hat (Gott weiß wie) den Weg in mein rechtes Ohr gefunden und irritiert mich dort kolossal; Krieger I, Brett, Herzöffnung, herabschauender Hund, nach vorne springen und wieder zurück – ich kann einfach nicht mehr. Es ist nicht mal 9 Uhr morgens und ich bin genervt: davon, dass mein Körper die gefühlt hundertzwanzig Ashtanga-Sonnengrüße mit so wenig Nonchalance absolviert, davon, dass es schon jetzt 30 Grad draußen sind, und davon, dass das Frühstück immer noch zwei Stunden weit entfernt ist. Yoga sollte sich verdammt noch mal besser anfühlen, denke ich.
„Come to the front of your mat and place your hands on your heart.“ Die Stimme meiner Lehrerin reißt mich aus meinen Gedanken. “Fühlt euer Herz schlagen. Fühlt, wie kräftig es pumpt, um euren Körper selbst bei extremer Anstrengung zuverlässig mit Sauerstoff zu versorgen. Nehmt euch einen Moment und seid dankbar. Bedankt euch bei eurem Herzen, dass es für euch schlägt. Dass es euch bewegt. Dass es euch am Leben hält. Spürt euren Herzschlag – und seid für jeden Schlag dankbar.“
Hoppla. Auf einmal bin ich ganz still. Ich höre nichts, außer dem Pock, Pock, Pock meines Herzens. Und dann passiert etwas Faszinierendes. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag verlangsamt und sich ein Gefühl von tiefer Ruhe ausbreitet. Meine Brust und meine Schultern scheinen sich zu weiten, um meinem Herzen Platz zu machen. Es schlägt, ich atme, und plötzlich ist jedes Gefühl von Irritation ist verflogen. Ich bin einfach dankbar – und sehr zufrieden.
Kleine Verschiebung mit großer Wirkung
Dankbarkeit ist eine faszinierende Angelegenheit. Im Prinzip machen wir nichts anderes, als unseren Fokus zu verschieben. Wir beginnen, etwas bewusst und wohlwollend zu betrachten, dem wir sonst keine besondere Aufmerksamkeit widmen oder das wir für selbstverständlich halten. Aber diese kleine Änderung in unserer Wahrnehmung hat signifikante Auswirkungen.
Mittlerweile haben sich diverse psychologische und medizinische Studien mit dem Thema Dankbarkeit beschäftigt. Eine der bekanntesten ist an der University of California, San Diego, von Prof. John Mills durchgeführt worden und hat den Zusammenhang zwischen Dankbarkeit und Herzgesundheit untersucht hat. Kurz und ergreifend fand das Team um Prof. Mills heraus, dass die Herzpatienten, die regelmäßig Dankbarkeitsrituale praktizierten, ihre Beschwerden spürbar verbessern konnten. Dankbarkeit scheint sich direkt auf körperliches und seelisches Wohlbefinden, Schlafqualität und sogar Entzündungswerte im Körper auszuwirken.
Wie genau das funktioniert, dazu gibt es verschiedene Erklärungen. Eine ist, dass Dankbarkeit offenbar den Vagusnerv aktiviert, den größten Nerv unseres parasympathischen Systems, das für Ruhe und Erholung im Körper zuständig ist. Der Vagusnerv ist direkt mit fast allen inneren Organen verbunden, hat also eine immense Auswirkung auf eine Vielzahl von Prozessen in unserem Körper.
Von den positiven psychologischen Effekten profitieren auch kerngesunde Menschen. Dankbarkeit wirkt auf zwei Ebenen – kurzfristig und langfristig. Kurzfristig führt sie in dem Moment, in dem wir sie praktizieren, dazu, dass wir uns besser fühlen – aus dem simplen Grund, weil Dankbarkeit negative Gefühle in den Hintergrund treten lässt. Wenn man sich einer Sache dankbar zuwendet, ist es fast unmöglich, gleichzeitig Ärger, Unruhe oder Angst zu empfinden. Langfristig führt regelmäßig praktizierte Dankbarkeit zu mehr Selbstvertrauen, Zufriedenheit und Gelassenheit. Wir verspüren mehr grundsätzlichen Optimismus und dadurch mehr positive Lebensenergie.
Wofür man alles dankbar sein kann
Das Grundidee in der Dankbarkeitspsychologie ist es, sein Leben, seine Umgebung oder sich selbst regelmäßig bewusst unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, welche positiven Aspekte man wahrnehmen kann und diese dann konkret zu benennen. Das können Kleinigkeiten sein – und vor allem, kann es jeden Tag etwas anderes sein. Die Quelle an potenziellen Dankbarkeitsimpulsen ist unendlich. Wir können für den Wind dankbar sein, der uns an einem heißen Tag Abkühlung bringt, dem Kollegen, weil er einem in einem kritischen Kundenmeeting den Hintern gerettet hat, oder uns selbst, weil wir uns trotz Müdigkeit zum Sport aufgerafft haben. Wir können den eigenen Eltern dafür dankbar sein, dass sie uns das Leben geschenkt haben, dafür, dass im Radio grade unser Lieblingslied läuft, oder dafür, dass Samstag ist und wir noch einen weiteren Tag ausschlafen können. Die Geschmacksexplosion, die der erste Löffel des selbstgekochten Currys im Mund auslöst, eine spontane „Mama, ich hab dich so lieb!“-Umarmung der kleiner Tochter, oder unsere schöne Wohnung, in der wir uns so wohlfühlen… wenn wir genau hinschauen, gibt es eine nicht enden wollende Fülle von Menschen, Dingen und Situationen, für die wir dankbar sein können.
Warum ein schlechter Tag vielleicht doch ein guter Tag ist
Dabei geht es nicht darum, auf einmal alles durch die rosarote Brille zu betrachten. Auch läuft nicht plötzlich alles im Leben rund, nur weil man Dankbarkeit praktiziert. Die Kunst ist aber, auch in herausfordernden Situationen ein Quäntchen Dankbarkeit zu finden.
Klar, spontan käme niemand auf die Idee, für Dinge dankbar zu sein, die so richtig schief gelaufen sind. Und ich will ganz bestimmt nicht behaupten, dass man allem sofort etwas Positives abgewinnen kann. Woran ich aber fest glaube, ist der nachfolgende Satz:
„War der Tag nicht dein Freund, so war er dein Lehrer.“
Wenn wir es zulassen und sie annehmen, dann können uns auch vermeintliche Tiefpunkte in unserem Leben weiterbringen. Eine Veränderung unserer Lebensituation kann erst einmal traurig oder frustrierend sein. Mit etwas Abstand erkennen wir aber vielleicht, dass sie uns Türen zu neuen Menschen, Erlebnissen oder Erfahrungen geöffnet hat. Wenn wir auf eine Herausforderung oder ein Hindernis stoßen, so bekommen wir damit gleichzeitig die Chance, an der Situation zu wachsen: Wir können beispielsweise erkennen, wie stark wir eigentlich sind, welches kreative Potenzial zur Problemlösung in uns steckt oder wie wir lernen können, Hilfe anzunehmen. Alles Dinge, für die wir dankbar sein können.
Das Schönste an Dankbarkeit ist: Man kann sie jederzeit und überall praktizieren. Man brauchte keine Vorkenntnisse und keinen besonderen Anlass. Und je mehr wir uns ihr zuwenden, desto mehr Dankbarkeit empfinden wir. Dankbarkeit ist wie ein kleiner Muskel, der stärker wird, je mehr er trainiert wird.
Wer jetzt ein klein bisschen „angefixt“ ist, aber noch nicht ganz weiß, wie er mehr Dankbarkeit in seinen Alltag bringen kann, für den habe ich nachfolgend fünf einfache Tipps zusammengestellt, die mir in meine Recherchen zu diesem Text mehrfach begegnet sind und die ich bereits selbst ausprobiert habe. Vielleicht spricht dich die ein oder andere Idee an und du probierst sie einfach mal aus.
Viel Freude damit
Annie
5 Tipps für mehr Dankbarkeit im Alltag
1. Der Klassiker: das Dankbarkeitstagebuch
Viel weniger aufwendiger, als es klingt, und es zeigt enorme Wirkung: Studien belegen, dass Menschen, die jeden Tag notieren, wofür sie dankbar sind, nach nur kurzer Zeit zufriedener und glücklicher mit ihrem Leben sind.
Lass dich vom Begriff „Tagebuch“ nicht abschrecken – die Methode meint schlicht und ergreifend nur das tägliche Aufschreiben, du brauchst dafür kein spezielles Buch oder Journal. Nimm dir einfach ein leeres Blatt Papier und notiere dir jeden Abend vor dem Schlafengehen drei Dinge, für die du heute dankbar warst. Das können wie oben beschrieben Kleinigkeiten sein – wichtig ist, dass du dich noch einmal bewusst in die Situation hineinversetzt, dem positiven Gefühl der Dankbarkeit nachspürst, und es dann niederschreibst, um es zu verankern.
2. Fertige eine Dankbarkeits-Mind Map an
Nimm dir ein großes Blatt Papier und schreibe in die Mitte „Ich bin dankbar für…“. Um diese Satz herum schreibst du dann all die Dinge, die dir einfallen. Notiere einfach alles, was dir in den Kopf kommt und lass dich von einem zum nächsten führen. Irgendwann ist das Blatt voll und du hast eine wunderschöne, motivierende Übersicht über alles, was gut in deinem Leben ist, die du dir immer wieder anschauen kannst.
3. Setze dir eine Dankbarkeits-Erinnerung in dein Handy
Nutze die Erinnerungsfunktion deines Handys, um Dankbarkeit als kleines Ritual in deinem Alltag zu verankern. Programmiere dir eine wiederkehrende Erinnerung in dein Handy, die dich zu immer gleichen Zeiten (mindestens einmal, gerne auch zweimal am Tag) darauf aufmerksam macht, dass du dir JETZT einen Moment Zeit nimmst, um dir zu vergegenwärtigen, wofür du gerade dankbar bist. Horche in dich hinein, sag dir im Geiste, wofür du dankbar bist und spür deinem Gefühl kurz nach. Das Ganze dauert keine Minute – und danach machst du einfach weiter mit dem, was du vorher gemacht hast. Gleichzeitig trainierst du mit jeder diesen kleinen Einheiten deinen „Muskel“ (s.o.).
4. Nimm dir Zeit für eine Dankbarkeitsmeditation
Auf das Gefühl von Dankbarkeit zu meditieren ist eine extrem beruhigende und ausgleichende Erfahrung. Wie du eine solche Meditation konkret durchführen kannst, dafür gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten.
Du kannst dir beispielsweise eine konkrete Situation in Erinnerung rufen, in der du besonders viel Dankbarkeit empfunden hast und diese vor deinem geistigen Auge noch einmal in allen Details durchleben. Setz dich dazu in einen aufrechten und angenehmen Sitz und schließe deine Augen. Konzentriere dich jetzt auf die Situation, die du betrachten willst. Wo warst du genau, wie sah die Umgebung aus? War es warm oder kalt, sonnig oder dunkel? Welche Geräusche hast du gehört in dem Moment, was hast gerochen? Wer war außer dir noch da? Was hast du konkret empfunden? Gehe so tief, wie du kannst, in die Situation hinein und verweile einen Moment darin. Sage innerlich noch einmal danke und atme dann einmal tief ein und aus. Öffne deine Augen und nimm das angenehme Gefühl mit in deinen restlichen Tag.
Du kannst auch auf eine bestimmte Person meditieren, die dein Herz ganz besonders erwärmt, oder sogar auf ein geliebtes Tier. Stelle sie dir wie oben beschrieben mit der gleichen Intensität vor und verweile in dem Gefühl von tiefer Dankbarkeit und Zuneigung so lange, bis du die Meditation wieder beenden möchtest.
Wenn du geleitete Meditationen bevorzugst, findest du hier und hier zwei schöne Beispiele.
Ein besonders verbindendes Gefühl stellt sich übrigens ein, wenn man in einer Dankbarkeitsmeditation die Hände auf den Herzraum legt, entweder nebeneinander oder eine Hand auf der anderen. Der leichte Druck und die Wärme deiner Hände auf deinem Brustkorb helfen dir, dich auf dein Herz zu konzentrieren und die dort entstehenden Empfindungen und Schwingungen bewusster wahrzunehmen.
5. Sage dir selber jeden Tag danke
Mache es dir zur Gewohnheit, dir jeden Tag zu einem festen Zeitpunkt selbst „danke“ zu sagen – einfach dafür, dass es dich gibt! Das kann beim Zähneputzen sein, bei deiner ersten Tasse Kaffee oder Tee am Morgen oder wenn du abends zurück in deine Wohnung kommst und deine Jacke an die Garderobe hängst. Die meisten Menschen praktizieren viel zu wenig Selbstliebe – anderen Menschen sagen wir oftmals viel häufiger, wie toll sie sind, als uns selbst. Wir bewundern und loben andere – und sind mit uns selbst meist überkritisch.
Nimm dir daher einmal am Tag einen Moment, in dem du dich selbst wohlwollend und liebevoll betrachtest und dankbar bist, für all das Gute in dir.
Sehr inspirierender und hilfreicher Artikel! Und weil ich etwas daraus gelernt habe: VIELEN DANK dafür :)
Wie schön, das freut mich sehr!