Ein Sonntag in den großen Ferien. Die Sonne scheint auf eine Welt, in der nichts passiert. Das Surren der Bienen ist der Soundtrack eines endlos langen Films ohne nennenswerte Handlung. Alles, was vor einem liegt, sind wie zäher Sirup dahinfließende Stunden und gähnende Langeweile.
Als Kind habe ich sie gehasst, diese ereignislosen Sonntage. Ich bin in einem kleinen Ort am Niederrhein aufgewachsen. Das Konzept des Ruhetages wurde hier ganz groß geschrieben. Nicht nur, dass es dort eh schon nur sehr wenige Geschäfte oder Cafés gab – sonntags hatten auch wirklich alle davon geschlossen. Selbst der eine Kiosk an der zentralen Busbahnhaltestelle drehte samstagsnachmittags das Schild in der Tür um. Kommen Sie am Montag wieder.
An Sommersonntagen waren alle Straßen gespenstisch leer. Wohin sollte man auch gehen? Und überhaupt: Wer sollte irgendwohin gehen? Es waren ja alle weg, in Italien, in Holland, in den Bergen, am Meer. Orte, von denen man später Postkarten im Briefkasten fand, und an denen man im Zweifel nicht einmal selbst gerne gewesen wäre, denn man wäre dort ja ebenso alleine gewesen wie daheim.
Das Problem der Sommerferiensonntage war nicht die staatlich verordnete Ruhe, sondern die Tatsache, dass man seine Freunde nicht wie gewohnt sehen konnte. Wenn man Pech hatte, überschnitt sich die von den Eltern geplante Urlaubsreise nur um den An- oder Abreisetag mit der der besten Freundin, was bedeutete, dass man sich wochenlang einsam und fehl am Platze fühlte. In den Sommerferien meiner Kindheit gab es noch kein WhatsApp oder Instagram, keine Handys und kein Roaming. Kilometer und Tage ließen sich nur mit Münzfernsprechern und mit auf Papier geschriebenen Worten überbrücken. Wer in Kontakt bleiben wollte, brauchte Zeit – und eine für mein damaliges Taschengeld nicht unerhebliche Menge an Kleingeld.
Szenenwechsel.
Ein Mittwoch im April, eine Großstadt, 28 Jahre später. Die erste Frühlingssonne brennt kleine Löcher in meine Haut und ich gehe über Straßen, die so gespenstisch still und leer sind, wie die Feriensonntage meiner Kindheit. Wann habe ich meine Freunde zuletzt gesehen? Ich weiß es nicht mehr. Oder doch, ich weiß es schon. Gestern im Video-Chat, heute Morgen auf ihren Social Media-Post, vorhin auf dem eine Sprachnachricht begleitenden Profilbild. Aber wann habe ich sie zuletzt umarmt, mit ihnen in einem Café gesessen oder bis spät in die Nacht mit ihnen am Strand Bier und Wein getrunken? Die Erinnerungen daran scheinen wie aus einen anderen Leben und einer anderen Welt. Die Realität: Kontaktsperre, Beinahe-Lockdown, Anstehen vor dem Supermarkt und Arbeiten von Zuhause. Das Leben eine Armeslänge auf Abstand. Völlig surreal.
Ich steuere einen Ort an, der schon als Kind eines der Highlights meiner langen Sommersonntage war. Abgesehen von den mit Klebeband markierten Abstandszonen auf dem Boden scheint in der Eisdiele alles fast normal. Drei Kugeln, mit bunten Streuseln. Thorsten schiebt mir lächelnd den Becher über die Theke. Er merke vergleichsweise wenig von der aktuellen Situation. Eis gegessen wird scheinbar immer. Irgendwie ist das ein beruhigendes Gefühl, für ihn wie für mich.
Beim Rausgehen sehe ich Saskia auf der anderen Straßenseite. Ich rufe und winke und sie bemerkt mich. Ein Herzhüpfen vor Freude, trotz einer Umarmung, die leider nur im Kopf stattfindet. Wir spazieren unter Einhaltung des angemessenen Abstands ein Stück zusammen und schmieden Pläne. Pläne für eine Zeit, die wieder kommen wird, aber die gerade ferner denn je scheint. Gott, was sehne ich das Ende dieser großen Ferien herbei! Jeder Tag wie Sonntag, das ist nicht meins.
Andererseits koche und backe ich mehr, schreibe ich mehr, lese ich mehr. Laufe mehr und mache mehr Yoga, fotografiere mehr und schlafe mehr. Dabei geht es gar nicht um das “mehr” im dem Sinne, als dass ich auf einmal einen knallvollen Tag hätte – den hatte ich vorher auch. Aber ich mache andere Dinge als früher und vor allem mache ich sie langsamer und ich mache sie bewusster. Ich telefoniere und schreibe mehr mit Freunden auf der ganzen Welt. Ich gehe mehr spazieren und sitze mehr in der Sonne. Ich meditiere, ich sortiere meinen Kleiderschrank und mein Leben, ich denke nach, ich träume und ich genieße, dass alles um mich herum ein bisschen leiser ist.
Wenn ich ehrlich bin, war auch an den Sommerferiensonntagen von früher nicht alles schlecht. In der akuten Ereignislosigkeit konnte man tief in die eigenen Gedanken- und Phantasiewelten eintauchen und alles, was man tat, bot die Option, sich komplett darin zu verlieren. Man hatte ja alle Zeit der Welt dazu.
Ein gewisses Maß an Langeweile fördert erwiesenermaßen die Kreativität. Ich bin gespannt, was am Ende dieser Krise dadurch entsteht.