Egal ob mit 30 oder 90, es braucht Kampfgeist und Kuchen

„Machen se Yoga? Sieht man direkt“, schnarrt mein Orthopäde, während er meinen Oberkörper unsanft von rechts und links und links nach rechts dreht. „Stehen se mal auf, stellen se sich ma gerade hin. Aha, aha, ja, interessant!“ Mit einem zufriedenen Schnalzen diagnostiziert er mir einen leichten Haltungsschaden. Er schaut auf den Bildschirm in meine Akte, wahrscheinlich checkt er gerade mein Geburtsdatum, denn als nächstes sagt er: „Ist eigentlich typisch für junge Leute“. Dann strahlt er mich fröhlich an. „Sie haben die Krankheit einer Dreißigjährigen!“ Ja klasse, ich freu mich auch. Wie wahnsinnig. Mir wäre es zwar deutlich lieber, wenn meine Kosmetikerin mir die Haut einer Dreißigjährigen bescheinigen würde, aber gut, bekanntermaßen ist das Leben weder Ponyhof noch Wunschkonzert. Er ruckelt ein bisschen an meinen Schultern rum („stabil, aber viel zu schmal“), knallt mir noch fix drei Blockaden aus der Brustwirbelsäule, kommentiert abschließend meine Gesamtphysis („Dat seh ich doch, dat Sie ne Sportliche sind!“) und entlässt mich dann mit der Empfehlung, ich solle es mal mit Boxen probieren. Da bekäme man ordentlich Kraft, die bräuchte ich.

Keine fünf Minuten hat das Ganze gedauert, aber ich bin fix und fertig von der maschinengewehrartigen Fremdanalyse meines Körpers. Memo an mich selbst: Nie mehr vor dem ersten Kaffee zum Orthopäden, man ist in dem Zustand mental noch zu zart.

An der Garderobe stoße ich mit einer kleinen, alten Frau zusammen. Sie lacht mich an und ihr ganzes Gesicht zieht sich herrlich verrunzelt zusammen. „Sie müssen entschuldigen, ich habe hinten keine Augen“, sagt sie mit einer Mischung aus Schmunzeln und Bedauern, so als fände sie das ernsthaft schade, hätte sich aber im Laufe ihres Lebens damit abgefunden. „Wollen Sie mal was sehen?“, schließt sie nahtlos an und zeigt mir, wie sie ihre Handtasche auf den Boden legt, in den Schulterriemen hineinklettert und sie von unten nach oben über ihre Jacke anzieht. Damit sie nicht in der Kapuze hängenbliebe, die Schulterbeweglichkeit gäbe es nicht mehr her, aber der Trick funktioniere doch prächtig, oder? Ich kann nicht anders, ich muss mit ihr mitlachen und sie plappert fröhlich weiter. Normalerweise ist mein erster Impuls, wenn fremde Menschen mehr als die sozial üblichen Floskeln an mich richten, die Konversation schnell und höflich wieder zu beenden. Aus irgendeinem Grund ist in mir abgespeichert, dass „man sich nicht vollquatschen lassen soll“. Die alte Frau ist aber so sweet, dass ich sie nicht unterbrechen mag, und ich höre ihr zu, wie sie mir auf dem Weg aus der Praxis heraus von ihrem Leben erzählt. Die Älteste von fünf Geschwistern, mit 14 beide Eltern verloren, dann Kinderheim, mit 16 arbeitet sie auf einem Bauernhof (wo sie sich den Rücken fürs Leben ruiniert, wie sie sagt), für ihre erste Liebe fährt sie abends nach der Arbeit zwei Stunden mit dem Fahrrad nach Wuppertal und zurück. Mittlerweile ist sie 92, ihren Mann hat sie längst überlebt, sie zählt mir die Metallteile auf, mit denen ihr Körper an den unterschiedlichsten Stellen zusammengeflickt ist. „Ich hab’s echt nicht einfach gehabt“, sagt sie, „aber ich habe mich nie unterkriegen lassen. Ich bin ’ne Kämpferin“.

Ihre Worte hallen in mir nach, als ich auf mein Rad steige und durch den Nieselregen nach Hause fahre. Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich sie nicht einfach auf ein Stück Kuchen zu Heinemann um die Ecke eingeladen haben. Das Café hätte wunderbar zu ihr gepasst und ich habe gespürt, dass sie gerne noch weiter geplaudert hätte. Und ich habe es genossen, ihr zuzuhören. Irgendwie hat es meine eigenen Probleme in eine andere Perspektive gesetzt. Ja, ich sorge mich gerade wie wahnsinnig, dass ich nach drei Monaten Burnout immer noch nicht weiß, wie es mit mir weitergehen soll. Müsste ich nicht längst wieder ganz da sein, performen, wieder auf den Beinen sein – oder zumindest eine Idee haben, wie meine Zukunft aussehen könnte? Drei Monate nicht zu arbeiten und in einer Art Auszeit von meinem bisherigen Leben zu leben – das scheint mir ein unendlich langer Zeitraum. Aber nach dem Gespräch nun denke ich, mal ehrlich, was sind denn drei, vier oder sogar fünf Monate auf ein ganzes, langes Leben betrachtet? An den Maßstäben eines klassischen Berufslebens gemessen mache ich gerade nichts. In Wahrheit mache ich aber ganz viel. Ich lese, ich spaziere, ich höre Podcasts, ich miste aus, ich gehe zur Therapie, ich jogge, ich meditiere, ich schreibe, ich denke nach, ich koche, ich backe, ich lerne, ich treffe Freunde, ich unterrichte sogar Yoga. Vielleicht ist es genau diese Tatsache – dass ich zu so vielen Dingen fähig bin und gleichzeitig zu der einen Sache, der Rückkehr in meinen Job, nicht – die es schwierig macht, diese Zeit gerade auszuhalten. In einer Art Übersprungshandlung drehe ich bei und fahre trotz des Regens einen Umweg, um mir in einem Hipster-Laden eine überteuerte vegane Zimtschnecke zu kaufen. Gibt schlechtere Kompensationsmechanismen als fluffiges Hefegebäck, finde ich.

Durchgefroren und nachdenklich komme ich zu Hause an. Mein Orthopäde sagt, ich könne Kraft gebrauchen, kurz danach treffe ich eine alte Frau, die alle Angriffe des Lebens einfach weggeboxt hat – fehlt nur noch, dass mir der Spotify-Algorithmus als nächstes „Fighter“ von Christina Aguilera ausspielt. Ja, Universum, ich hab‘s verstanden. Auch, wenn’s gerade nicht easy ist – ich bleibe dran. Because it makes me that much stronger, makes me work a little bit harder, makes me that much wiser.

Und irgendwann werde ich über diese Zeit, die mir gerade so schwerfällt, sagen: Thanks for making me a fighter.

Gefühlt geht’s im Schneckentempo bergauf. Aber hey, die kommen auch irgendwann irgendwo an.

Manchmal stolpert man über die richtigen Worte im richtigen Moment

Die Zimtschnecke auf dem Foto ist nicht die Zimtschnecke aus dem Text. Diese hier ist aus dem Dänemark-Urlaub von vor zwei Jahren.

Hinterlasse einen Kommentar