Schrödingers Katze, ich und unser Dilemma

Schrödingers Katze ist ein faszinierendes Gedankenexperiment, mit dem der Forscher Erwin Schrödinger in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts ein für makroskopische Systeme bestehendes Paradoxon der Quantenmechanik aufzeigen wollte. Kurz gesagt (und alle Physiker:innen müssen sich jetzt bitte die Ohren zuhalten) geht es darum, dass ein mikroskopisches System, also beispielsweise ein Elektron innerhalb eines Atoms, zu einem bestimmten Zeitpunkt verschiedene mögliche Zustände einnehmen kann. Sprich: Ein Elektron kann sich zum Zeitpunkt X innerhalb des Atoms theoretisch an ganz unterschiedlichen Orten befinden, für die sich jeweils nur eine Wahrscheinlichkeit berechnen lässt. Die unterschiedlichen Zustände können sich sogar teilweise überlagern – das Elektron kann also sowohl hier als auch gleichzeitig dort sein.

Man möge mir den nachfolgenden Einschub verzeihen, aber ich muss beim Schreiben des vorherigen Satzes sofort an diese komische lilafarbene Figur aus der Sesamstraße denken, die immer von links nach rechts gerannt ist und dabei atemlos gerufen hat: „Jetzt bin ich hier“, „Jetzt bin ich da“. Als Kind war ich danach immer kolossal verwirrt und hatte das Konzept von Räumlichkeit noch weniger verstanden als vorher. Vielleicht war ich aber auch nur hochintelligent und hatte das Puppenspiel automatisch durch die Brille der Quantenphysik betrachtet. Natürlich konnte man sowohl „hier“ als auch „da“ sein – wo bitte war das Problem? (Wer sich den Wahnsinn übrigens nochmal in feinster Röhrenfernseherauflösung geben will, dem sei dieser Link hier an Herz gelegt.)

Anyways, zurück zum Thema: Das Faszinierende an den sich überlagernden Zuständen eines Systems ist, dass sie nicht nur gleich wahrscheinlich und gleichzeitig möglich sind, sondern dass das System erst dann, wenn man von außen eine Messung vornimmt, einen der möglichen Zustände annimmt. Im Falle von Schrödingers Katze sah das so aus: Die Katze war in einer nicht einsehbaren Box, in der durch den (möglichen, die Chancen standen 50/50) Zerfall eines Atoms eine Apparatur ausgelöst wurde, über die sich ein Gift in der Box verteilte, das die Katze dann töten würde. Da die Wahrscheinlichkeit, dass das Atom zerfallen und somit den Giftprozess auslösen würde, ebenso hoch war, wie dass dies nicht der Fall sein würde, war die Katze nach den Gesetzen der Quantenmechanik in ihrer Box gleichermaßen tot wie lebendig. Erst durch das Öffnen der Box würde ihr Zustand in eine der beiden Möglichkeiten springen. Bis dahin war sie eine Sowohl-als-auch-Katze. Noch heute spricht man in der Quantenphysik von einem Katzenzustand, wenn man die sich überlagernden Zustände eines Systems beschreibt. Wichtiger Disclaimer an dieser Stelle: No animals were harmed, die Katze existierte immer nur in Herrn Schrödingers Kopf.

Mit allem gebotenen Respekt für Menschen, die auf dermaßen schlaue Ideen kommen, entdecke ich in diesem Experiment Parallelen zu meinem aktuellen Leben. Ich fühle mich wie Schrödingers Katze. Und ich frage mich: In welchem Zustand ist mein ausgebranntes System gerade? Was würde jemand sehen, der die Box öffnet?

Auf der einen Seite bin ich krankgeschrieben, nicht arbeitsfähig, nach wie vor eingeschränkt in dem, was mein Körper und mein Kopf mir zur Verfügung stellen, und durch all das teilisoliert von bestimmten Aspekten eines normalen Lebens. Katzenzustand: tot. Oder zumindest schlafend. Auf der anderen Seite fühle ich mich nach langer Zeit endlich wieder wirklich lebendig im Sinne von mit mir verbunden, bei mir, aktiv lebend und nicht nur existierend. Ich bin ich kreativer und neugieriger als vorher, präsenter, wenn ich mich mit Menschen treffe, liebevoller mit mir selbst und toleranter anderen gegenüber. Ich kann vorsichtig wieder aus einem zumindest halbvollen Brunnen schöpfen und anderen etwas geben, ohne dabei Gefahr zu laufen, meine eigenen Ressourcen bis auf den Grund aufzubrauchen. Wie ein Schwamm bin gerade aufnahmefähig für Neues, lese viel, höre Podcasts, schaue mir Dokumentationen und Kunst an, recherchiere und hinterfrage – mich selbst und alles andere. Was sich fast noch besser anfühlt: Ich habe wieder die mental-emotionalen Kapazitäten (und ja, auch den zeitlichen Raum) zu kreieren, habe wieder angefangen zu schreiben und liebe es. Welcher der zwei möglichen Katzen bin ich also?

Im Gegensatz zur nüchternen Wissenschaft ist ein Katzenzustand im echten Leben weitaus schwerer auszuhalten. Vielleicht weil es eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, alles ungefragt „messen“ und einordnen zu wollen. Wir wollen Klarheit und Eindeutigkeit. Ein Entweder oder ein Oder. Was wir nicht wollen, sind sich überlagernden Zustände, scheinbare Widersprüche, fragwürdige Parallelwelten. Damit können wir nichts anfangen. Wer schon einmal getrauert hat, kennt diesen schlimmen Moment, in dem man endlich wieder befreit lacht – einfach, weil gerade etwas Schönes passiert ist – und sich sofort zutiefst schämt. Auch mir fällt es schwer, die aktuelle Uneindeutigkeit in meinem Leben zu akzeptieren. Je nachdem, welchen meiner beiden möglichen Zustände ich gerade beurteile, verneine ich den anderen. Wenn ich krank bin, dann kann ich nicht zufrieden im Café sitzen. Wenn ich zufrieden im Café sitze, dann kann ich nicht krank sein. In der Realität ist beides wahr und zum gleichen Zeitpunkt möglich.

Und so sende ich an dieser Stelle Grüße aus meinem Sowohl-als-auch-Leben, an das ich mich immer noch nicht ganz gewöhnt habe, das ich mir aber vorgenommen habe, fortan mit mehr Mut und Selbstverständlichkeit zu leben. Offen mit meinem Dilemma umzugehen scheint mir dafür ein erster, guter Schritt zu sein. Vielleicht haben wir im Leben alle mehr Katzenzustände, als wir uns eingestehen wollen.

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