So viel kaputt, aber so vieles nicht

Es gibt Dinge, die stellt man sich ein ganzes Stück besser vor, als sie tatsächlich sind. Frittiertes Snickers beispielsweise oder Sex am Strand. Beides nicht schlecht, don’t get me wrong. Aber wenn man ehrlich ist, toppt die Erwartung die Realität. Neu auf meiner entsprechenden Liste steht seit letzter Woche Kintsugi. Kintsugi ist eine japanische Kunstform, die die Schönheit im Unperfekten zelebriert. Dabei kittet man zerbrochene Gegenstände mit aushärtendem Harz, das mit gold- oder silberfarbenem Puder vermischt wird, so dass es sichtbare Spuren hinterlässt. Entsprechend geht es nicht darum, das Reparierte wieder wie neu aussehen zu lassen, sondern im Gegenteil seine Macken optisch hervorzuheben, um so seine einzigartige Geschichte zu würdigen. Perfektion kann jeder, will Kintsugi uns sagen. Wahre Schönheit und Individualität entstehen da, wo diese vermeintliche Perfektion Risse bekommt. Im übertragenen Sinne ist Kintsugi eine Hommage an das Leben an sich – mit allen Ups and Downs, die dazugehören. Oder wie in der berühmten Songzeile von Leonard Cohen: There is a crack in everything, that‘s how the light gets in.

Den Gedanken fand ich natürlich ganz zauberhaft und da mir gerade mein liebster Malachit-Ring auf dem Badezimmerboden in mehrere Teile zerscheppert war, dachte ich mir: Das mache ich jetzt einfach mal mit dem Kintsugi. Wie schwer kann das schon sein? Ich sah mich bereits anmutig mit Geduld, Grazie und feinem Pinsel das goldfarbene Harz zu einer zarten Naht auftragen und hörte mich, wie ich auf bewundernde Fragen hin die Geschichte meines außergewöhnlichen Ringes erzählen würde. Ja genau, der war kaputt und ja richtig, das ist diese japanische Technik mit der man das Unperfekte sichtbar macht, um seine Schönheit zu feiern. Sieht toll aus, oder?

Turns out: Kintsugi ist schwer. Sehr schwer. Zumindest, wenn man mit etwas so Filigranem wie einem Ring startet. Vielleicht hat es auch nur mich an meine Grenzen gebracht, weil ich möglicherweise einfach nicht der Typ für fernöstliche Kunstarbeiten bin, who knows. Jedenfalls hatte ich nach kürzester Zeit Harz und Goldstaub überall, alles pappte, nur die Ringteile wollten einfach nicht zusammenhalten. Je mehr ich mich bemühte, desto weniger klappte es. Ich fühlte mich wie in einer Perversion von „Herr der Ringe“ – ein hilfloser Frodo, der verzweifelt versucht, den Ring Saurons wieder zu kitten, als würde das Schicksal von Mittelerde davon abhängen. Frustriert schüttelte ich die klebrigen Teile von meinen klebrigen Fingern und betrachtete den kleinen Scherbenhaufen vor mir. Von wegen schöner als vorher. Mission Abbruch. So viel dazu.

Kürzlich habe ich „Die Träume anderer Leute“, den autobiographischen Roman der ehemaligen „Wir sind Helden“-Sängerin Judith Holofernes gelesen. Ein Buch, das mich sehr berührt hat. Ich war früher ein großer Fan der Helden und erinnere mich lebhaft an einen Open-Air-Auftritt bei Rock am Ring, der für immer meine Liebe zu Judith Holofernes zemetiert hat. Sie sah auf der Bühne gleichermaßen so klein und zart wie groß und tough aus und hatte eine ganz reizende Art, mit dem Publikum umzugehen. Für mich war sie diese Art von natürlich-cooler, natürlich-schöner Mädchen-Frau, die ich immer gerne sein wollte, aber nie war, weil ich dafür schon immer zu unsicher und schon immer zu groß war. Aber das nur am Rande. Viel wichtiger: Zu fast jedem wichtigen Moment in meinen Zwanzigern gibt es einen für mich dazugehörenden Helden-Song, so als wäre es der Band ein Anliegen gewesen, nur für mich einen Soundtrack für mein Leben zu schreiben. Natürlich habe ich nie hinterfragt, welche Menschen, welche Geschichten hinter den Masken der Kunst-Persönlichkeiten steckten. Umso überraschender fühlte es sich an, in dem Buch einen ungeschönten Blick hinter die sprichtwörtlichen Kulissen zu bekommen. Judith Holofernes schreibt schonungslos offen und in stellenweise schmerzhaft-schlauen Sätzen über all ihre Krisen – vor, während und nach der Helden-Zeit. Wie sie an jeder ihrer Herausforderungen erst verzweifelt und dann gewachsen ist und wieviel Zerschmettern, Zerschellen und Zusammenbrechen es brauchte, bis sie dem, was sie wirklich glücklich macht, endlich nähergekommen ist. Getreu der Logik von Leonhart Cohen, ist heute nun ganz viel Licht in ihrem Leben. Ihre Erzählung hat mich sehr berührt.

Letztlich ist es doch so: Wir alle stolpern im Leben und tragen nicht selten fiese Schürfwunden davon. Unsere Herzen bekommen Risse, unser Selbstvertrauen blaue Flecken und hin und wieder brechen wir uns einen Zacken aus der Krone. Aber wir können lernen, uns mit liebevoller Nachsicht und viel Mühe wieder selbst zusammenzukitten und anschließend unsere goldenen Nähte bewundern.

Die Kunst des Kintsugi braucht Zeit, Geduld und Übung. Mein zweiter Versuch, eine kleine, grüne Schale, aus der eine Kante herausgebrochen war, sah bereits deutlich besser aus als der unvereinbare Ring. Nicht perfekt, aber genau darum geht es ja.

Vielleicht muss ich mein Urteil vom Anfang dieses Textes revidieren. Einverstanden – Kintsugi kommt wieder runter von meiner Liste. Snickers und Strandsex bleiben aber drauf. Zumindest so lange, bis ich auch hier eines Besseren belehrt werde.

Der Ring der Ohnmacht

Nicht nur (aber besonders auch) für Helden-Fans sehr lesenswert

Yupp

Blüten ja, Mantel aber auch. Fasst den Frühling dieses Jahr ganz gut zusammen.

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  1. Klaudi sagt:

    🙏👍😘

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