Die Welt ist ein Dorf. Jeder kennt jeden über drei Ecken. Und Zufälle gibt’s! – Immer dann, wenn man irgendwo jemanden trifft, den man dort beim besten Willen nicht erwartet hätte, fällt einer dieser Sätze. So auch vergangenen Freitagabend in London. Aber von vorne.
Ich hatte daheim in verschiedenen Zeitschriften von sogenannten Supper oder Dinner Clubs gelesen, die neuerdings in allen Großstädten, die was auf sich halten, veranstaltet werden. Das Prinzip ist immer das Gleiche: Privatleute verwandeln ihre Wohnung für einen Abend in eine Art Restaurant und bekochen dort (in der Regel nach vorheriger Anmeldung und gegen Geld) eine Handvoll ihnen fremder Menschen. Die Gastgeber sind mindestens passionierte Hobbyköche, oft haben sie sogar eine professionelle gastronomische Ausbildung. Für die Gäste liegt der Charme solcher Clubs – abgesehen vom Essen – vor allem darin, dass sie das Intime und Unterhaltsame privater Dinnerparties mit der Möglichkeit kombinieren, neue spannende Leute kennzulernen. Und wahrscheinlich kann sich auch niemand so ganz davon freisprechen, dass es etwas wunderbar Neugier-Befriedigendes hat, einfach mal so einen Abend in einer fremden Wohnung zu verbringen.
In London gibt es (wie sich das für eine hippe Metropole gehört) eine große und bunte Auswahl von Supper Clubs – die Website „London Pop-ups“ verzeichnet mehr als 50 unterschiedliche Veranstalter. Manche Clubs finden mehrmals im Monat statt, andere nur zu bestimmten Anlässen. Ich entscheide mich nach eingehender Recherche für den „White Room Supper Club“, denn erstens ist er von mir aus relativ leicht mit der Tube zu erreichen und zweitens passt mir das Datum der nächsten Veranstaltung gut. Ich überweise 35 Pfund im Voraus und bin angemeldet für ein 4-Gänge-Menü inklusive Begrüßungscocktail und alkoholfreier Getränke. Die meisten Clubs praktizieren das BYO („bring your own“)-Prinzip, wahrscheinlich, weil sie sonst eine Alkohol-Konzession bräuchten. Aber kein Ding, sowohl die Sainsbury’s- als auch die Waitrose-Filiale um die Ecke von meinem Apartment haben eine exzellente Weinabteilung und so mache ich mich am Freitagabend um kurz vor sieben bewaffnet mit einer Flasche Sauvignon aus Neuseeland und einem kleinen Gastgeschenk auf den Weg nach Islington.
Erste Schwierigkeit: Der Weg von der Tube-Station bis zum Supper Club ist doch weiter als gedacht und die hochhackigen Schuhe, die ich für den Anlass gewählt habe, fangen an zu drücken. Zweite Schwierigkeit: Ich finde die angegebene Adresse nicht. Erst folge ich einer Gruppe von jungen Leuten (einfach, weil die so aussehen, als würden sie ebenfalls etwas suchen) in ein Hochhaus, nur um festzustellen, dass ich dort keinesfalls richtig bin, und in einem zweiten Gebäude, in dem ich die Wohnung der Gastgeberin vermute, öffnet mir auch nach mehrmaligem Klingeln niemand die Tür. Ich zücke also mein Handy und rufe die auf der Reservierung angegebene Nummer an. Mailbox. Na toll. Fast bin ich geneigt, aufzugeben, umzudrehen und mich mit meinem Wein zurück in mein Apartment zu verziehen und mir die nächste Folge von „The Great British Bake Off“ (phänomenal! Aber das ist ein anderes Thema) in der BBC Mediathek anzuschauen. Doch meine Neugier und mein Hunger siegen und ich starte einen zweiten Anruf-Versuch. Diesmal klingelt es und eine Frauenstimme meldet sich. Ich nenne meinen Namen erkläre ihr in meinem schönsten British English, dass ich ihren Supper Club suche, wohl aber vor dem falschen Haus stünde… „Ach, du bist das? Wir können auch Deutsch sprechen“, sagt die Frau am anderen Ende in lupenreinem Hochdeutsch. Ich stutze. Ach ja, Moment, der Name der Gastgeberin war ja Claudia. Nicht gerade ein typisch englischer Name. Sollte ich also tatsächlich unabsichtlich einen „German Supper Club“ ausgewählt haben??? Ich spare mit die Frage für später auf, denn jetzt lotst mich Claudia erstmal die Straße entlang bis zu ihrem Haus.
Das Atrium des Hochhauses, in dem sie wohnt, ist eine eindrucksvoll industriell anmutende Halle aus Beton und Stahl. Ich kraxele die Treppen hoch in den vierten Stock und betrete ein unfassbar stylisches Loft mit deckenhohen Fenstern. Die anderen Gäste stehen bereits mit ihrem Begrüßungscocktail da und unterhalten sich. Ich lasse einen schnellen Blick durch die Runde schweifen – und bin beruhigt: Ich bin weder die Jüngste noch die Älteste, weder die Schäbigste noch die Schickste. Es scheint, als wären wir ein homogenes Grüppchen von entspannten, netten Leuten, die an diesem Freitagabend einfach mal woanders als im Restaurant essen wollen. Artige Begrüßungsrunde meinerseits (und nein, ich kann mir einfach nicht mehr als zwei Namen gleichzeitig merken, egal, welche Tricks ich anwende) und sofort komme ich ins Gespräch mit einem gutgelaunten (und durchaus gutaussehenden) blonden Briten, der wie ein Wasserfall von seinem gerade beendeten Griechenland-Urlaub erzählt, davon, dass er schon zum zweiten Mal hier ist, bereits weiß, dass die Gastgeberin super kochen kann, und, und, und. Wir werden von einem anderen Mann unterbrochen, der mich freudig auf Deutsch anspricht und wissen will, woher ich komme. Als ich sage „Düsseldorf“ lacht er und sagt einen der obenstehenden Sätze. Er sei Andreas, komme auch aus Düsseldorf und Claudia, die Gastgeberin, auch. Die beiden hätten sich im Karneval kennengelernt und würden nun zusammen hier wohnen. Der blonde Brite schmunzelt (Karneval scheint auch ihm ein Begriff zu sein) und wirft ein, dass gleich auch noch Yvonne, eine weitere (zumindest gebürtige, wenn auch seit langem in England lebende) Deutsche käme. Und ein junger Mann in adretter Hemd-und-Pulli-Kombi, der unsere Konversation verfolgt hat, erklärt freudestrahlend, dass er demnächst für seinen Job für drei Monate nach – ja, richtig geraten – Düsseldorf ziehen werde. Ich fasse es nicht: eine Rheinland-Connection mitten in London!
Bis wir uns zum Essen an den langen weißen Tisch setzen, erörtern wir folglich erst einmal ausführlich, inwiefern Düsseldorf anders ist als London (a lot!). Mit dem Essen weiten sich dann die Gesprächsthemen und wir tauschen quer über den Tisch Geschichten und Erfahrungen aus. Maria, die mir gegenübersitzt, ist mit 14 Jahren aus Russland nach London gekommen und kann sich nicht vorstellen, jemals wieder zurück zu gehen – auch, wenn die weißen Nächte in St. Petersburg das unfassbar Schönste sind, was sie je gesehen hat. Die charmante Farbige zu meiner Linken ist wie ich das erste Mal Gast bei einem Supper Club und hat an diesem Abend absichtlich ihren Freund zu Hause gelassen, weil sie mal „etwas nur für sich“ tun wollte. Andreas erzählt mir, wie er sein Leben in Deutschland aufgegeben hat, um zu Claudia nach London zu ziehen und hier nun sein ursprüngliches Hobby, die Fotografie, zu seinem Beruf gemacht hat. Yvonne hat nicht nur unglaubliche Reisestories aus so gut wie jedem Land in Südostasien auf Lager, sie war auch `89 beim Fall der Mauer AUF der Mauer (das alles erzählt sie in einer reizenden Mischung aus Englisch im Wechsel mit Deutsch mit englischem Akzent). Und Steve, der als Claudias und Andreas Nachbar den beneidenswert kürzesten Heimweg der Runde hat, macht mir Komplimente für mein Englisch und amüsiert sich, dass ich meine Auslandszeit im Studium ausgerechnet in Nottingham verbracht habe. Er ist noch etwas müde, denn er ist erst in der Nacht zuvor von einer Reise nach Gaza und Israel zurückgekommen und immer noch ganz überwältigt von seinen Eindrücken. Ehe ich mich versehe, ist es für mich an der Zeit aufzubrechen, um die letzte Tube nach Hampstead zu bekommen.
Fazit des Abends: Ich habe nicht nur sehr gut gegessen, sondern mich auch mit wildfremden Menschen bestens unterhalten. Würde ich permanent in London wohnen, ich wäre sicherlich nicht das letzte Mal bei einem Supper Club gewesen – das Konzept ist wirklich 1A. In Düsseldorf gibt es NOCH keine Supper Clubs, aber ich bin nach diesem Abend Feuer und Flamme, den ersten zu starten!
Ach so, Steve habe ich übrigens am darauf folgenden Sonntagmorgen zufällig beim Bummel über den Columbia Road Flower Market wiedergetroffen. In einer Millionenstadt wie London sind er und ich zur gleichen Zeit am gleichen Ort und erkennen uns wieder. Was soll ich sagen? Die Welt ist wirklich ein Dorf!
Alle Fotos (c) Andreas Grieger | http://ag-photography.de/
Ich finde es toll, was Du Dich alles traust und machst! Das finde ich ganz toll, auch diese Kombination! Essen und Reisen sind auch meine Themen u.a. Hab vielen Dank dafür! LG Susann
Danke, Susann 😊
Was machst Du so beruflich, wenn ich fragen darf? Finanzierst Du Deine Reisen so? Hast Du schon neue Reisepläne? Susann
Ist das komplett „Hobby“ – habe leider noch keinen Weg gefunden, das zum Beruf zu machen :)
Glaubst Du nicht, Du könntest einen Sponsor finden? Und Du machst ein Buch, Blog…daraus? Du kannst doch gut um die Ecke denken!
Ist grundsätzlich ein super Gedanke!