Zehn Dinge, die man nur macht, wenn man in London lebt

Ob man’s will oder nicht, seine Umgebung färbt auf einen ab. Nach gut drei Monaten in London ertappe ich mich bei immer mehr Dingen, die ich vorher nie gemacht, gesagt oder gedacht hätte. Langsam kann ich mich wohl als angehende Britin ausweisen, auch wenn es immer noch genug Situationen gibt, in denen ich einfach nicht über meinen deutschen Schatten springen kann. Aber ich lerne – und die nachfolgenden zehn Punkte beherrsche ich schon ganz gut.

1. Wichtigste Phrase: “I’m sorry”
Man ist immer sorry, egal ob man wirklich etwas getan hat, für das man sich entschuldigen müsste oder nicht. Es ist einfach eine Frage der allgemeinen Höflichkeit. Bestes Beispiel: In der überfüllten U-Bahn tritt einem jemand auf den Fuß – und die natürliche Reaktion ist ein promptes “I’m sorry”. So geschehen auf meinem Weg zur Arbeit heute Morgen. Nochmal: ICH habe mich dafür entschuldigt, dass MIR jemand auf den Fuß getreten ist. Muss man sich mal vorstellen.

2. Ein Pläuschchen geht immer
An der Supermarktkasse einfach Sachen aufs Band, einpacken, zahlen, abhauen? Geht gar nicht! Mit jedem Teil, das über den Scanner gezogen wird, wird auch ein Stück Lebensgeschichte ausgetauscht. Was es denn heute Gutes zum Abendessen gibt? Wohin der nächste Urlaub geht? Woher wohl das hübsche Kleid ist, das man anhat? In dieser ansonsten so hektischen Stadt sind diese kleinen, zeitraubenden Plaudereien ein herrlicher Luxus. Wer diesem zwischenmenschlichen Austausch nichts abgewinnen kann, der geht zu den Selbstzahlkasen. Die reden zwar auch mit einem (“Have you swiped your Nectar Card?”), wollen aber in der Regel keine Antwort.

3. Kleid & Sandalen? Selbstredend, ist doch Sommer! (oder auch nicht)
Ich habe es aufgegeben, mich “passend” zum Wetter anzuziehen. Wie schon beschrieben, ist das hier eh ein relatives Konzept. Aktuell ist August, das heisst nach allgemeinem Verständnis Sommer, folglich ziehe ich mich sommerlich an. Auch bei 19 Grad und Nieselregen.

4. So etwas wie zu früh am Tag gibt es nicht, wenn es um darum geht, ein Glas Wein (oder Bier oder Cider) zu trinken
Wer mich kennt, weiss, dass ich durchaus keine Nonnenschülerin bin, wenn es ums Trinken geht. Für gewöhnlich halte ich mich aber an die gute deutsche “Kein Bier vor vier”-Regel. Die ist hier gänzlich unbekannt. Egal zu welcher Tageszeit ich an einem Pub, einem Restaurant oder einer Bar vorbeikomme, es gibt immer jemanden, der schon bei einem Glas darin sitzt. Und ich rede hier nicht von traurigen, arbeitslosen Dauertrinkern, sondern von ganz normalen Menschen wie du und ich. Das Verhältnis zu Alkohol ist hier einfach, sagen wir mal, liberaler – und vor allem nicht abhängig von Wochentag oder Uhrzeit. Besonders beliebt: Prosecco und Bloody Marys an Wochenendvormittagen. Siehe auch Punkt 9.

5. Love, hun, darling – Kosenamen für alle!
“That will be 5,40 love. Have a nice day darling, take care!” Die liebenswerte Art der Engländer, in jede Konversation mindestens einen Kosenamen einzuflechten, erwärmt regelmäßig mein kaltes, germanisches Herz. Egal ob Busfahrer, Obstverkäufer oder die Dame an der Rezeption – jeder durchwebt seinen persönlichen Syntaxteppich mit diesen kleinen, netten Worten, die der Unterhaltung sofort ein Gefühl von Zugewandtheit und Herzlichkeit geben.

Auch ich stelle fest, dass meine Sprache mit der Zeit viel liebenswerter geworden; fast unbemerkt haben sich die kleinen Kosewörter in meine Sätze eingeschlichen. Wie ich diese Art der Ansprache in die Heimat übertragen werde, ist mir allerdings noch schleierhaft. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Kassiererin bei Penny sofort den Filialleiter rufen würde, um sich bei ihm wegen Belästigung zu beschweren, wenn ich mein Wechselgeld mit einem “Vielen Dank, Liebes!” entegennehmen würde. Schwierig.

6. Man hat die Tatsache akzeptiert, dass alles etwa eine Stunde entfernt ist
London ist groß. Sehr groß sogar. Was automatisch bedeutet, dass Entfernungen und Zeit relativ werden. Wo es daheim schon eine Weltreise scheint, sich von Bilk nach Flingern zu begeben (25 Minuten sind aber auch wirklich lang!), ist es hier fast unmöglich, in weniger als einer Stunde von A nach B zu kommen, zumindest wenn man den Stadtteil wechselt. Folglich kann man entweder zur konsequenten Kiezkatze werden, oder aber sich mit den Dimensionen abfinden und versuchen, das Beste aus dem langen Weg zu machen. Man kann Menschen beobachten, U-Bahn-Stationen auswendiglernen, Zeitunglesen, tagträumen… ja genau, man kann solch wunderbaren old school-Beschäftigungen nachghen! Genialerweise gibt es nämlich kein Datennetz in der Londoner U-Bahn, was heißt, dass das Smartphone eine kurze, süße Zeit zeitlang zu einem völlig nutzlosen Gegenstand wird. Leider hat der Sadiq Khan, der Mayer of London, kürzlich die Freigabe für den Ausbau des Netzes in den Untergrund erteilt. What a shame!

7. Die Kunst der höflichen Konversation
Lieber würden die Briten sich die Zunge abbeißen, als etwas Unhöfliches zu sagen und ihren Gegenüber in eine unangenehme Situation zu bringen. Damit das auch ja nicht passiert, sind Unterhaltungen hier wie ein wohl choreografierter Tanz, der nach einem bestimmten Muster abzulaufen hat. Jede (wirklich jede) Konversation beginnt damit, dass man sich zunächst nach dem Befinden des Gegenübers erkundigt, danach gibt es ein wenig belangloses Geplänkel über das Wetter, die Umgebung oder den bisherigen Verlauf des Tages und erst dann irgendwann kommt man zum eigentlichen Thema des Gespräches.

Wer glaubt, nun könne er endlich sagen, was er auf dem Herzen hat, der irrt. Wer wird denn gleich mit der Tür ins Haus fallen?!? In kleinen Trippelschritten näher man sich dem Thema, tänzelt vorsichtig vor und zurück, umkreist es und dreht kunstvolle Pirouetten – bis man dem anderen irgendwann (irgendwie) vermittelt hat, was man ihm sagen wollte. So richtig auf den Punkt kommt man dabei aber trotzdem nicht, das wird als unhöflich direkt empfunden. Und so spricht man manchmal viel, bevor man wirklich miteinander gesprochen hat. Zugegebenermaßen die schwierigste kulturelle Übung für eine auf Effizienz getrimmte Deutsche.

8. Nur perfekt manikürt ist man gesellschaftsfähig
Das tadellose Auftragen von Nagellack gehört nicht zu meinen persönlichen Stärken. Viel zu ungeduldig bin ich, als dass ich ihn so lange trocknen lassen könnte, dass er auch wirklich keine Kitschen und Macken bekommt. Folglich laufe ich in der Regel immer nur mit semi-perfekten Nägeln durch die Gegend. Auch gehöre ich eigentlich nicht zu der Sorte Mädchen, die ihre Freizeit in Nagelstudios verbringen, um sich von anderen Menschen professionell die Nägel bemalen zu lassen. Dachte ich, bis ich nach London kam und mir jede weibliche Hand, die mir gereicht wurde „Ich bin perfekt manikürt!“ entgegenschrie. Schamvoll versteckte ich meine schlampigen Tatzen – und frequentierte umgehend einen der (gefühlt hundertausend) Nagelsalons der Stadt. Ernstaunlich wenig Geld und Zeit später verließ ich das Etablissement und bin seitdem regelmäßige Kundin. Anständige Nägel gleich anständiger Mensch, so läuft das hier. Das Ganze geht sogar so weit, dass in meinem Büro jeden Donnerstag ganz offiziell eine professionelle Maniküre angeboten wird, die man während der Arbeitszeit in Anspruch nehmen kann. Kein Scherz.

9. Brunch is das neue Frühstück
Watch and learn! Man verabredet sich hier nicht zum Frühstück, sondern zum Brunch! Da gibt es zwar genau die Sachen, die man normalerweise auch zum Frühstück essen wurde (also Acai Bowls, Full English, Porridge, Pancakes, Avocadotoast oder Waffeln mit Ei und Bacon), aber man bekommt dazu nicht nur Kaffee oder Tee, sondern auch Prosecco oder Cocktails! Das Konzept des “Bottomless (=unbegrenzt) Brunch” habe ich zunächst völlig falsch verstanden, dachte ich Anfänger doch, es ginge dabei um All you can eat-Buffets. Doch weit gefehlt, „bottomless“ heißt in diesem Fall (ich hätte ich ahnen konnen, s. Punkt 4) „All you can drink“. Und folglich ist der Bottomless Brunch hier eine äußerst beliebte Wochenendaktivitat.

Das Ganze läuft in der Regel so ab, dass man sich mit Freunden samstags- oder sonntagsvormittags in einem Café seiner Wahl trifft, eine der oben genannten Speisen zu sich nimmt und versucht, innerhalb von zwei Stunden (in der Regel ist die Zeit, in der man einen Tisch belegen darf, begrenzt) so viel Alkohol wie möglich zu trinken. Danach stolpert man satt (und mehr oder minder angeheitert) zurück ins Tageslicht, nur um zuzusehen, dass man moglichst schnell irgendwohin kommt, wo man weitertrinken kann. Espresso Martinis beispielsweise eignen sich als Nachmittagsgetränk ganz verzüglich. Profis gehen dann nahtlos ins Nachtleben über, alle anderen trollen sich am frühen Abend nach Hause, um sich angenehm angeschickert auf der Couch zusammenzurollen, ein bis drei Folgen ihrer Lieblingsserie zu schauen und weit vor Mitternacht einzuschlafen. Vorteil: Am nächsten Morgen ist man fit. Und kann sich wieder zum Brunch verabreden.

10. Man geht nicht einfach irgendwo hin. Man macht Pläne. Wochen im Voraus. Ach was sag ich, Monate!
Man sollte glauben, dass es in London wirklich genug Lokalitäten und Aktivitäten für alle gibt. Die Stadt ist ein einziges buntes Buffet an Freizeitmöglichkeiten – doch wenn man zugreifen möchte, bekommt man ganz schnell einen sanften Klaps auf die Finger, denn fast alles ist vorab reserviert. Spontan ist hier nicht. Die coolsten Bars, die besten Restaurants, die angesagtesten Parties, alles ist auf Wochen hinaus ausgebucht. Das kann verdammt frustrierend sein. Seitdem ich hier bin, versuche ich beispielsweise einen Tisch zum Frühstück im Duck & Waffle zu ergattern – und bin doch irgendwie immer zu spät dran, um ihn zu den mir passenden Terminen (beispielsweise wenn Freunde zu Besuch sind) zu bekommen. Ich bin einfach niemand, der sich gerne so weit im Voraus festlegt. Was weiß ich denn, ob ich wirklich in vier Wochen Lust habe, ausgerechnet an dem einen Abend, an dem ich dort einen Tisch reserviert habe, in den Neverland Beachclub zu gehen? Zähneknirschend muss ich mich hier anpassen – und stelle dabei fest, dass ein bisschen planen und Verbindlichkeit manchmal doch gar nicht so schlecht sind.

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