Was London und Mary Poppins gemeinsam haben, oder: Eine Lektion in Achtsamkeit

Von Anfang an war klar: Mein Abenteuer London würde ein Ende haben. Doch als dieses dann tatsächlich näher rückte, verfiel ich in Panik. Und ich meine: echte, richtig schlimme Panik. Ich konnte nächtelang nicht schlafen, weil mein Herz so wild hämmerte wie nach einem Vodka-RedBull-Exzess. Tagsüber wurde mir das Herz schwer, wenn ich eine Straße entlang oder an einem Laden vorbeiging, weil ich mir sagte, dass ich bald nicht mehr hier entlanggehen oder einkaufen können würde. Und auf dem Rückweg von einem abendlichen Restaurantbesuch mit Freunden brach ich in der U-Bahn fast in Tränen aus, weil ich schon jetzt unendlich traurig war, dass ich in einer nun nicht mehr allzu fern scheinenden Zukunft sowohl die Freunde als auch das Restaurant ganz schrecklich vermissen würde.

Nach ein paar so verlebten Tagen wurde ich mir zum Glück selbst zu bunt und ich beschloss, dass nun Schluss sein müsse mit der Vorschuss-Nostalgie. Stattdessen traf ich eine Vereinbarung mit mir selbst, Handschlag drauf und mit Blutstinte unterzeichnet (letzteres natürlich nur sprichwörtlich): Ich würde im restlichen mir in London verbleibenden Monat jeden einzelnen Moment wahrnehmen und jeden Tag ganz bewusst erleben. Ich würde keine Sekunde meiner kostbaren, mir noch in dieser wunderbaren Stadt verbleibenden Zeit verschwenden, indem ich sie einfach an mir vorbeistreichen ließe.

Als erste Amtshandlung nach diesem Entschluss setzte ich mich an meinen Küchentisch und erstellte eine lange Liste von Dingen, die ich in den nächsten vier Wochen unbedingt noch sehen und erleben wollte. Und dann begann ich, diese Liste Posten für Posten abzuarbeiten. Die erste Lektion, die ich hierbei lernte: Manchmal muss man sich Dinge fest vornehmen, damit sie passieren. Vor allem dann, wenn man wie ich mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens gesegnet ist und sich ständig von neuen Impulsen und Eindrücken von seinem eigentlichen Tun ablenken lässt. Meine „London Bucket List“ machte für mich den Unterschied zwischen einem vagen Wunschvorhaben und einem konkreten Ziel. Und so buchte ich Restauranttische und Tickets für den Sky Garden, fixierte Termine für Ausstellungen und fuhr zu Märkten und Kirchen und über komplizierte U-Bahn-Strecken in Stadtteile, die mir bislang zu fern erschienen waren. Von jeder meiner Exkursionen kam ich beschwingt zurück und setzte höchst zufrieden einen Haken auf meiner Liste.

Viel erstaunlicher war allerdings, was abseits dieser besonderen Erlebnisse mit mir passierte. Nachdem ich meinen Geist auf „Achtsamkeit“ eingenordet hatte, änderte sich Schritt für Schritt auch meine alltägliche Welt. Wenn man sich entscheidet, bei allem, was man tut, gegenwärtig zu sein, dann beeinflusst das automatisch den Zustand der Tätigkeit, die man ausübt – egal was es ist. Ich behaupte jetzt nicht, dass ich auf einmal Spaß daran bekam, mich morgens in die abartig volle U-Bahn zu quetschen, oder dass ich in jedem Arbeitsmeeting vor Freude Konfetti über den Konferenztisch werfen wollte. Aber ich konnte seltsamerweise auch diesen Dingen plötzlich eine gewisse Faszination abgewinnen, da ich mich intensiver mit ihnen beschäftigte, und ich verspürte eine unbestimmte Dankbarkeit dafür, all das erleben zu können.

Ich beobachtete mich genauer und mir fiel auf, dass ich mich viel zu oft an der (vermeintlichen) Erreichung irgendeines Ziels orientierte – den Einkauf erledigen, den Arbeitstag rumbringen, das Workout absolvieren – und den Weg dorthin in meiner Aufmerksamkeit völlig vernachlässigte. Was, wenn man mal so drüber nachdenkt, eigentlich völliger Quatsch ist, bedenkt man die zeitliche Relation zwischen Ziel und Zielerreichung. Wer seine Aufmerksamkeit immer nur auf sein nächstes Ziel konzentriert, verschwendet unendlich viele Momente davor und dazwischen und ist folglich einen großen Teil des Tages überhaupt nicht präsent (was dann das berühmte Gefühl ergibt, dass das Leben an einem vorbeirauscht).

„In every job that must be done, there is an element of fun“

Mary Poppins

Ich aber hatte mich entschieden, keinen Moment zu verschwenden, also sorgte ich nun dafür, dass keine meiner Tätigkeiten zur Verschwendung wurde. Der Weg zur Arbeit wurde zu einer Chance, die je nach Wetter andere Luft einzuatmen und die unterschiedlichen Farben des Himmels über den Häusern zu sehen. Ich konnte Menschen beobachten (davon gibt es in London ja wirklich genug) und kleinen Gesprächsfetzen zuzuhören und mich jeden Morgen über den Geruch des frisch zubereiteten Kaffees aus dem winzigen Espressoladen in der Queenstown Road Station freuen. Im Büro gab es die Möglichkeit, in Meetings gemeinsam verrückte Ideen zu spinnen, Worte zu schönen Texten aneinander zu reihen, Kollegen zu helfen und (wenn man es denn nur zulässt) ständig etwas Neues zu lernen.

Obwohl ich mich eigentlich als absolut positiven Menschen bezeichnen würde, fiel mir auf einmal auf, in wie vielen Situationen ich mich sonst unbewusst geärgert hatte, ungeduldig oder genervt war – und wie viel besser es sich anfühlte, diese Situationen nun anders wahrzunehmen. Anstatt mich im Supermarkt über die lange Schlange an der Kasse zu ärgern, nahm ich diesen Zustand einfach hin und meine Ungeduld leicht belustigt wahr. Und wenn nach einer morgendlichen Joggingrunde meine müden Beine wehtaten oder beim Yoga nach einer besonders fordernden Sequenz meine Muskeln schmerzten, ärgerte ich mich nicht wie sonst darüber, dass ich zu unfit, zu schwach oder was weiß ich auch immer war, sondern freute mich, dass ich meinen Körper spüren konnte. Ich war dankbar für meine Muskeln, die mir erlaubten, mich zu bewegen, für mein Herz, das so treu und ständig Blut durch meinen Körper pumpte, und meine Lungen, die mich ohne, dass ich etwas dafür tun musste, mit Sauerstoff versorgten. Letzteres mag jetzt schrecklich esoterisch klingen, brachte mich aber oft dazu, meine Wahrnehmung von angestrengt und angespannt in ein positives Gefühl zu verwandeln.

London war in jeder Hinsicht sensationell und eine Erfahrung, die mein Leben verändert hat. Vor allem aber in diesem letzten, besonders bewussten Monat habe ich für mich nochmal etwas Essentielles gelernt, nämlich welchen Unterschied ein klein wenig mehr Achtsamkeit macht. Das Leben ist viel zu facettenreich und wundervoll, um es nur an sich vorbeirauschen oder sich von ihm haltlos mitreißen zu lassen. Man muss auch nicht nur für die „besonderen Momente“ leben. Letztlich haben wir es ja in der Hand, jedem Moment (auch den noch so Alltäglichen oder sogar den vermeintlich Nervigen) etwas Besonderes abzugewinnen. Um es mit den Worten von Mary Poppins zu sagen: „In every job that must be done, there is an element of fun. You find the fun and… snap! The job’s a game. And every task you undertake, becomes a piece of cake.“

Der Weg ist das Ziel. Ich glaube, ich habe erst jetzt so richtig verstanden, was damit gemeint ist.

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. Eva sagt:

    Toller Text der mir aus der Seele spricht. Es ist überraschend wie sehr man die Welt aus anderen Augen sehen kann wenn man nur den Blickwinkel ändert
    Liebe Grüße :)

    1. Annie sagt:

      Danke, liebe Eva! Es freut mich zu hören, dass du das genauso erlebst!

  2. Solveig pfefferkorn sagt:

    du hast so Recht!

  3. Marina sagt:

    Ganz toll geschrieben und so wahr! Freue mich schon darauf, was du sonst alles von London zu berichten hast, wenn wir uns Sonntag sehen!😊🙏

    1. Annie sagt:

      Danke meine Liebe! Ich freue mich auch schon drauf!!! 😘

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