Räucherstäbchen und Benzin

Der Wind weht zerrupfte Geräusche an mein Ohr: Motorroller, die vorbeibrausen, Gesprächsfetzen, Gehupe, das Lachen einer Frau, das metallisch-melodische Klingen der Gamelan. Die Luft riecht nach Räucherstäbchen und Benzin. Für einen Moment schließe ich die Augen. Ich bin zurück auf Bali. Nach ziemlich genau neun Jahren stehe ich wieder auf den kaputten Bürgersteigen von Ubud. Überall sind Steine und Platten zersprungen und hochgeschoben, die Gehwege sind so schmal, dass kaum zwei Personen anneinander vorbei passen und sie werden noch schmaler dadurch, dass alle paar Meter ein Motorroller längs oder quer darauf abgestellt ist. Menschen schieben sich an mir vorbei, Einheimische, aber hauptsächlich Touristen aus aller Herren Länder. Ubud erinnert an Babel – ich mag nicht einmal raten, wie viele Sprachen auf der Jalan Hanoman in diesem Moment gerade gesprochen werden. Eine scheinbar undurchdringbare Masse von Autos, Rollern und Motorrädern schiebt sich auf der Straße an mir vorbei und zieht sich wie ein Gummiband mal zusammen, mal auseinander. Laden an Laden, Restaurant an Restaurant, Spa an Spa reiht sich hier dicht an dicht, alle paar hundert Meter unterbrochen von einem kleinen Tempel oder Family Compound.

Ubud ist eine Herausforderung für die Sinne. Es gibt so viel zu sehen, dass man gar nicht alles auf einmal wahrnehmen kann – zumal man die Augen vor allem auf die kaputten Gehwege richten muss, um nicht sofort mit einem Bänderriss oder verstauchten Knöchel wieder nach Hause zu humpeln. Überall fangen kleine, bunte Opfergaben den Blick ein. Sie liegen vor Ladentüren, auf den kleinen Schreinen, die alle paar Meter an den Häusern angebracht sind, oder ganz einfach mitten auf der Straße, bevorzugt an Kreuzungen. Verschiedenfarbige Blumen, Räucherstäbchen, Früchte, Cracker, Bonbons, Reis, manchmal kleine Beutelchen mit süßen Getränken, sogar Geldscheine; alles wunderschön arrangiert in Bananen- oder Palmblatt-Kästchen. In einer Geste der Selbstlosigkeit gibt jeder, was er hat – mal mehr und mal weniger.

Jeden Morgen verteilen Frauen in traditionellen Gewändern die „canang sari“ aufs Neue. Dass die kleinen Gaben im Laufe des Tages entweder dem Verkehr, den Schritten der Fußgänger oder der neugierigen Schnauze eines Hundes zum Opfer fallen, ist nicht weiter schlimm. Sobald die Räucherstäbchen über den Blüten erloschen sind, haben die Götter die Essenz der Gaben angenommen. Was bleibt, ist die irdische Hülle – und die darf gerne von einem Affen oder Hund verspeist werden.

Im täglichen und allgegenwärtigen Ritual der canang sari wird die Verehrung der Balinesen für das Göttliche und das Schöne besonders deutlich. Welch scheinbare Verschwendung, so viel Schönheit jeden Tag neu zu erschaffen, wohl wissend, dass sie nur für den Moment existieren wird. Genau dieses Wissen ist es, das die kleinen Gaben umso wertvoller macht. Ich frage mich, ob ich mich jemals an ihnen sattsehen würde, wenn ich hier leben würde. Wenn ich die Intensität spüre, mit der mein Herz und meine Augen jedes Mal aufleuchten, sobald ich an einer der kleinen, bunten Boxen vorbeikomme, scheint mir das jedoch unvorstellbar.

Neun Jahre sind eine lange Zeit. Damals markierte Bali einen Einschnitt in meinem Leben und einen Neubeginn. Ich war kurz davor, einen neuen Job anzutreten, war dabei, mich aus den Efeuschlingen einer zerstörerischen Beziehung zu befreien und hatte all meinen Mut zusammengenommen, um meine erste Reise als Solo Traveller anzutreten. Zwei Jahre vorher hatte ich Bali gemeinsam mit einer Freundin bereist und irgendetwas hatte mich an besagtem Wendepunkt in meinem damaligen Leben hierhin zurückgezogen.

Genau wie heute, fast eine Dekade später. Gefühlt stehe ich erneut an einer Kreuzung in meinem Leben. Genau wie damals weiß ich aber, dass ich mich für den richtigen Weg entschieden habe. Bali ist meine kleine Rast, bevor ich ihn einschlagen werde. Wobei – vielleicht war und ist Bali bereits ein Teil meines Weges? Oder warum komme ich immer wieder hierhin zurück?

Louise, eine zauberhafte Irin, die hier mit ihrem israelischen Mann und ihrem kleinen Sohn lebt, hat mir während eines Spaziergangs durch die Reisfelder rund um Ubud von der Theorie der Ley-Linien erzählt. Ähnlich wie Meridiane oder Nadis im menschlichen Körper ist auch die Erde von Energielinien durchzogen. Dort, wo sie sich kreuzen, befinden sich interessanterweise viele der bedeutendsten spirituellen Städten der Welt wie Stonehenge, die Pyramiden, Machu Picchu, Angkor Wat… Und egal, ob man dieser Theorie nun Glauben schenken will, oder nicht – wer schon einmal an einem der oben genannten Orte war, wird nicht bestreiten können, dass sie eine besondere Kraft ausstrahlen, eine Magie, die sich nur schwer beschreiben lässt.

Bali, die „Insel der Götter“, liegt exakt auf einem Kreuzpunkt zweier der intensivsten Energielinien der Erde. So scheint es also kein Zufall zu sein, dass die Insel trotz des täglich zunehmenden Tourismus (nein, Bali ist schon lange kein unentdecktes Paradies mehr) immer noch einen besonderen Zauber hat. Ich spüre ihn deutlich, selbst im hupenden Straßenchaos von Ubud.

Zwischen meinem letzten Besuch und heute liegen neun turbulente Jahre und ein Weg, auf dem ich mehr als einmal gestolpert – und jedes Mal ein bisschen weiser als vorher wieder aufgestanden bin.

Vor mir liegen mehr als sechs Wochen auf dieser besonderen Insel. Was ich mir für diese Zeit vorgenommen habe? Alles und nichts. Ich lasse mich einfach treiben. Jetzt erstmal durch den bunten Straßentrubel von Ubud zurück zu meinem Guest House. Und dann sehen wir weiter. Ich bin sicher, Mother Bali wird die ein oder andere Überraschung für mich bereithalten.

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