Die Seele reist langsamer als der Körper. Diese wahnsinnig schlaue Beobachtung hat mein Lieblingsschriftsteller Helge Timmerberg angestellt. Timmerberg ist mit 17 das erste Mal von Deutschland nach Indien getrampt und seitdem in irgendeiner Form immer unterwegs gewesen. Heute ist er knapp 60. Er muss es also wissen.
Auch ich kenne das Gefühl, zwar physisch an einem Ort angekommen, aber trotzdem noch nicht ganz „da“ zu sein. Bei langen Flugreisen spüre ich es ganz deutlich und manchmal vergehen Tage, bis alle Teile meines Selbst wieder im Hier und Jetzt vereint sind. Aber auch schon nach wesentlich kürzeren Wegen brauche ich oft einen Moment, um mich wieder zu sammeln.
Als ich gegen Mittag in Canggu ankomme, bin ich innerlich aufgewühlt. Hinter mir liegen drei Tage in Ubud, die irgendwie anders waren, als erwartet. Nichts war so verlaufen, wie ich es geplant oder erwartet hatte – meine Unterkunft war wesentlich simpler (und das ist noch nett ausgedrückt), als gedacht, meine Yogalehrerin, wegen deren sonntäglicher Klasse ich extra angereist war, war an diesem Wochenende spontan doch nicht in Ubud, der geplante Tempeltrip mit einer Freundin fiel kurzfristig ins Wasser, weil sie sich am Vorabend einen Zeh verstaucht hatte, und über all dem schwebte eine leichte Übermüdung und Verletzlichkeit, die aus einer Verabredung mit zu viel Rotwein am Abend zuvor entstanden war. Kurzum, ich kam nicht in bester Verfassung in Ubud an, hatte dafür aber ausführlich Gelegenheit, mich dabei zu beobachten, wie ich damit umgehe, wenn Erwartungen an Situationen nicht eintreten. Definitiv spannend, aber auch definitiv anstrengend. Entsprechend froh war ich, all das hinter mir zu lassen und wieder zurück nach Canggu zu kommen.
Ich beziehe dieselbe kleine Hütte, die ich seit meinem ersten Tag auf Bali immer wieder miete, wenn ich in Canggu bin, und fühle mich umgehend besser. Mit wenigen Handgriffen sind meine Sachen wieder an ihrem angestammten Platz, ich packe meine Sonnenbrille und ein Buch ein und mache mich auf zum Shady Shack, meinem Lieblingscafé mitten im Ort. Ich spekuliere auf die Sofabank am Eingang, um dort mit meinem Buch und einem Kaffee den restlichen Nachmittags zu verbringen. Genau eine Sekunde vor mir steuert allerdings ein Typ die Bank an und so trete ich erstmal den Rückzug an und lasse mich drinnen an einem der offenen Fensterplätze nieder. Ich bestelle und versuche, es mir auf den hohen Hockern bequem zu machen, aber hier kann man einfach nicht gemütlich sitzen, zumindest nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. So what, denke ich, und beschließe, den Typen einfach zu fragen, ob der Platz neben ihm noch frei ist. Er ist frei und ich wühle mich zufrieden in die Kissen.
Ein bisschen Smalltalk, dann will ich eigentlich mein Buch aufschlagen. Aber irgendwie beginnt die Konversation zwischen Dan, so heißt er, und mir nach den ersten paar bedeutungslosen Sätzen zu fließen und auf einmal sind wir knietief in Themen, die alles andere als belanglose Café-Plaudereien sind.
Braungebrannt, T-Shirt, Boardshorts, Tattoos, Sonnenbrille – Dan könnte eigentlich das Klischee eines oberflächlichen, australischen Surfers sein, wenn sein Lächeln und seine offene, ruhige und zugewandte Art nicht eine komplett andere Sprache sprächen. Er ist Hochzeitsfotograf und kommt gerade von einer Reihe von Aufträgen in Italien zurück, wo er die letzten zwei Monate verbracht hat. Wir sprechen über seine und meine Arbeit und die Art, wie wir jeweils in Australien und Deutschland leben, über Meditation, Selbstfindung, Beziehungen, Familie, unsere Vergangenheit, Bali, den Umgang mit Trauer, die Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Medizin, Ernährung, weibliche und männliche Rollenbilder – einfach alles. Jeder Satz stößt wie ein Dominostein den nächsten an. Worte und Ideen kippen in einem wunderschönen Muster auf- und übereinander und nirgendwo ist ein Ende in Sicht. Irgendwann müssen wir beide lachen, so absurd ist die Situation, sich mit einem Fremden so intensiv zu unterhalten.
Am nächsten Tag bin ich um die Mittagszeit wieder im Shady Shack. Den Vormittag habe ich nach meiner morgendlichen Yogapraxis so lange in der Sonne vertrödelt, bis mich der Hunger nach draußen getrieben hat. Dan und ich haben uns gestern mit “see you around” verabschiedet. Ehrlich gesagt habe ich der Floskel nicht viel Bedeutung beigemessen – Canggu ist zwar nicht riesengroß, aber die Chancen, zur gleichen Zeit wieder am gleichen Ort zu sein, sind wiederum auch nicht riesengroß. Insofern hatte ich unsere Begegnung, auch wenn sie immer noch in mir nachklang, als das abgehakt, was sie bis hierhin war: ein einmaliger, toller Zufall.
“Hey, wanna join me?” Fast hätte ich ihn ohne die Sonnenbrille nicht erkannt. Seine Augen sind kleiner, als ich gedacht hätte, dafür strahlen sie in einem seltsam verwaschen Türkis. Dan sitzt mit einem Kaffee an einem der hohen Fenstertische. “Hey”, sage ich und setze mich neben ihn. Ich bin überrascht, wie sehr ich mich freue, ihn zu sehen. Es ist keinen Moment seltsam. So als hätten wir nie etwas anderes gemacht, fließt unser Gespräch nahtlos weiter. Nur, dass es sich diesmal noch vertrauter anfühlt, als am Tag zuvor, denn auf einmal gibt es da diese Momente, wo man bestimmte Details und Hintergründe der Geschichte des anderen bereits kennt. Der Nachmittag zieht an uns vorbei, ohne dass wir es merken. Ich erzähle ihm von “Brave New World”, das jemand in meinem AirBnb zurückgelassen hat und verspreche, ihm das Buch bei Gelegenheit mitzubringen. “Warum nicht morgen, um eins hier auf einen Kaffee?”, fragt er. Warum eigentlich nicht…
Stoßstange an Stoßstange, Blech an Blech, Hupen, Abgase, das Surren der Klimaanlage… wir stehen kurz hinter Denpasar im Stau. Nichts geht und ich beobachte die elektronische Uhrenanzeige auf dem Armaturenbrett. Keine Chance, dass ich pünktlich um 13 Uhr im Shady Shack sein werde. Zusammen mit zwei weiteren Frauen und Kiki, dem Fahrer, sitze ich in einem weißen Kia und bin auf dem Rückweg vom Immigrations Office. Da ich länger als 30 Tage auf Bali bin, muss ich mein Visum verlängern und dafür muss man einmal persönlich den Weg zum Amt antreten. „You‘ll be back in two hours“ hatte Budi, der Visa Agent, gesagt. Die Rechnung hatte er wohl ohne den Verkehr gemacht. Ich werde unruhig – und ärgere mich gleichzeitig darüber, dass ich es zulasse, dass mich die Situation so vor sich hertreibt. Der Verkehr wird nicht schneller fließen, nur weil du angespannt bist, denke ich. Relax! Und außerdem: Wo bleibt mein Vertrauen, dass alles schon irgendwie auskommen wird? Das Einfachste der Welt wäre es, Dan eben schnell eine WhatsApp zu schicken, und ihn zu bitten, das Treffen etwas nach hinten zu verschieben. Aber: Wir haben keine Telefonnummern ausgetauscht. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit, in der es noch keine Smartphones gab und eine Verabredung bedeutete, dass man sich darauf verließ, dass der andere ebenso zuverlässig wie man selbst zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort war – ohne spontanes Ausweichen oder Umplanen. Irgendwie haben Verabredungen damals ja auch geklappt, warum also macht mich diese Art des Treffens heute so unruhig? Ich merke, wie wichtig es mir ist, dass die Verabredung mit Dan nicht ins Wasser fällt. Da ich gerade allerdings nichts an der Situation ändern kann, atme ich erstmal tief ein und aus und schaue aus dem Fenster.
Der sonnige Wind trocknet meine vom Duschen noch nassen Haare, während ich Richtung Shady Shack eile. Irgendwann hatte sich der Verkehrsknoten gelöst und wir kamen in Canggu an, gerade noch mit genug Zeit, schnell unter die Dusche zu springen und den Schweiß und Staub der Fahrt abzuwaschen. Um 5 nach 1 komme ich mit hängender Zunge im Shady Shack an. Dan sitzt bereits mit einem Kaffee und seinem Handy auf der Bank. Er hat die Zeit genutzt, um ein paar E-Mails zu beantworten. Er grinst mich an. Alles ist gut.
Moskitos schwirren in der Dämmerung. Die Sonne hängt schon tief über dem Horizont und hat den Himmel über den Reisfeldern und Häusern in sanften Pastelltönen eingefärbt. Ich gehe die Straßen entlang, immer und immer weiter. Ich brauche Bewegung und vor allem brauche ich Ruhe und Abstand; Zeit, die letzten Tage sacken zu lassen und zu verarbeiten.
Die Begegnungen mit Dan haben etwas Unwirkliches. Wir wohnen gute 16.000 Kilometer voneinander entfernt, er ist nur für sieben Tage hier in Bali, von denen vier schon vergangen sind. Wir haben keine Vergangenheit zusammen und keine Zukunft miteinander. Es gibt Menschen, die durch Raum und Zeit miteinander verbunden werden und bei denen sich aus dieser Konstellation heraus eine tiefe Bindung zu einander entwickelt. Das sind nicht wir, ganz im Gegenteil. Und dennoch fühlen sich unsere Gespräche auf dieser schattigen Bank in Canggu komplett real und zeitlos an.
Das Verrückte dabei ist: Ich bin nicht einmal romantisch interessiert an Dan. Oder zumindest nicht in erster Instanz. Klar sieht er gut aus, er ist witzig, höflich, intelligent, charmant… aber das ist es nicht, was ihn für mich interessant macht und weshalb ich die Zeit mit ihm so genieße. Ich fühle mich ihm auf ganz andere Art und Weise tief verbunden und diese Verbindung muss zu nichts „werden“ und unsere Treffen verfolgen kein Ziel. Und doch sind sie mir unglaublich wichtig geworden. Dan und seine Art, die Welt zu sehen, sind wie ein exaktes Puzzlestück zu meinen Gefühlen und Gedanken. Aber viel wichtiger als das – er ergänzt nicht nur alles, was bereits in mir vorhanden ist; die Diskussionen mit ihm lösen kleine Funken in mir aus, die sich zu neuen Ideen weiterentwickeln und wachsen wollen. Wenn wir miteinander sprechen, fühle ich mich lebendig und voller Möglichkeiten.
Man sagt, dass man genau die Energien anzieht, auf die man sich selber konzentriert. Nach den letzten Wochen auf Bali und dem, was sie mit mir gemacht haben, erscheint es mir demnach kein Zufall, dass ich Dan gerade hier und jetzt kennengelernt habe. Ich habe außerdem das Gefühl, dass in dieser Begegnung eine Lektion auf mich wartet, und ich ahne auch schon welche. Kann ich etwas so Gutes wirklich wieder gehenlassen?
Meine Gedanken schweifen ab, zu meiner Ausbildung und zu dem, was wir über die Funktionsweise des menschlichen Geistes gelernt haben. Die alten Lehrtexte des Yoga sagen, dass es fünf Anlässe gibt, die unseren Geist aus dem Gleichgewicht bringen. Einer davon ist „raga“, das unbedingte Festhaltenwollen und Mehren von etwas, was wir als angenehm empfinden. Raga, sagen die alten Yogis, schafft Leid. Stattdessen gilt es zu akzeptieren, dass es völlig ok ist, Schönes zu empfinden – und es dann wieder gehen zu lassen. Panta rhei, alles fließt. Ok, das ist nicht yogische, sondern griechische Philosophie, aber die Aussage ist die Gleiche.
Ich weiß all das und habe es auf theoretischer Ebene komplett verinnerlicht. Und dennoch ist alles, was mich in diesem Moment beschäftigt die Frage: Was ist, wenn ich morgen wieder im Shady Shack bin, und Dan dort erneut zufällig treffe? Und was ist, wann er nicht da sein wird?
Ich bin am Strand angekommen und schaue aufs Meer. Der Wind zerrt an meinen Kleidern und das unablässige Rauschen und Klatschen der Wellen lullt mich ein. Es ist mittlerweile fast dunkel.
Wir werden sehen, denke ich. Wir werden sehen.
Was mag ein Hochzeitsfotograf vom anderen Weltende in Italien machen? Oder anders gefragt, haben die in Italien, haben die in Europa keine Kameraprofis? Schon seltsam. Oder ging’s nur um den Kick: guck mal, was wir exotisches dabeihaben (immer mit dem: was wir uns leisten können. Einer aus Mailand wäre viel zu billig…).
Aber das ist ja nicht das Thema. Sondern eine Verbindung ganz unverbindlich im Hier und Jetzt, die nett ist, und gleichzeitig die Verbindung durch, wie formuliert, Raum und Zeit. Ist es letzteres spielen die paar surrealen km zwischen den Lebenswelten auch keine Rolle. Ist es nur das erste mag eine anschließende Trennung nicht schlimm, vielleicht sogar ganz gut sein. Wird es aber dieses bekannte, ganz gewöhnliche Zwischenmenschliche wird’s spannend und die Entfernung eine arge Plage und Not.
Das ist in der Tat eine ganz andere Frage ;-))) Danke, dass du dir die Zeit zum Lesen und für diesen Kommentar genommen hast. Liebe Grüße aus Bali, Annie